AUFSÄTZE
Siegmund Kopitzki: Zehn Thesen zum „Umgang mit einem schwierigen Erbe“
In Konstanz gibt es seit Jahren eine Auseinandersetzung um
den Dichter Wilhelm von Scholz (1874-1969), die in letzter Zeit
an Schärfe zugenommen hat. Worum geht es? Scholz ging in
Konstanz zur Schule, hat seit den zwanziger Jahren bis zu seinem
Tode auf dem Konstanzer Familiensitz Seeheim gelebt und in den
Jahren des „Dritten Reiches“ mehr an bereitwilliger Zustimmung
zur Ideologie des Nationalsozialismus geleistet, als seinem
literaturgeschichtlich ohnehin geschwundenen Nachruhm gut tun
kann. So widerrief er beispielsweise die Toleranzbotschaft
seines frühen Theaterstücks „Der Jude von Konstanz“ (1905), ließ
sich zu Elogen auf Hitler herbei und formulierte noch 1944
lyrische Durchhalteappelle.
All dies führte bereits früher zu Auseinandersetzungen mit dem
einst berühmten und anerkannten Dichter: kurz nach dem Zelten
Weltkrieg verweigerte Heinz Hilpert eine Geburtstagsfeier für
Scholz im Stadttheater, in den 50er Jahren lehnte Scholz seine
mit zu vielen Nein-Stimmen zustande gekommene Ehrenbürgerschaft
ab, und in den achtziger Jahren gaben zwei Schüler den nach
Wilhelm von Scholz benannten Deutschpreis zurück. Erneute
Auseinandersetzungen gab es, als die Stadt das Grab des Dichters
abräumen lassen wollte, weil die Belegfrist abgelaufen war.
Dieser Stadtratsbeschluss, der inzwischen durch Einspruch des
Freiburger Denkmalamts gegenstandslos geworden ist, war für
Siegmund Kopitzki, Kulturredakteur beim Südkurier, Anlass für
die verschiedentlich und beharrlich vorgetragene Forderung, es
sich mit diesem ungeliebten Erbe nicht zu leicht zu machen. Die
daraufhin erneut und verstärkt einsetzende Auseinandersetzung
mit von Scholz, die in Dutzenden von Leserbriefen im Südkurier
kulminierte, führte schließlich in Überlegungen, den Wilhelm von
Scholz-Weg (er führt zum Anwesen des Dichters) umzubenennen. Im
Rahmen der Baden-Württembergischen Literaturtage 2009 gab es nun
in Seeheim eine vielbesuchte Ausstellung zu Wilhelm von Scholz,
zu der sich bei der Eröffnung, einer Podiumsdiskussion und einer
Lesung aus den Werken von Scholz jeweils weit über einhundert
Zuschauer drängten. Im Rahmen der genannten Podiumsdiskussion
trug Siegmund Kopitzki die nachstehenden „10 Thesen zum `Umgang
mit einem schwierigen Erbe´“ vor. Sie wollen weder etwas
beschönigen noch von Scholz aus der Schusslinie ziehen, im
Gegenteil: sie plädieren dafür, diese Wunde offenzuhalten,
möchten aber zugleich auch vor moralischer Selbstgerechtigkeit
oder gar Überheblichkeit warnen. Forum Allmende dankt Siegmund
Kopitzki – und auch der Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Prof.
Aleida Assmann – für die Genehmigung, dass es sie hier – als
Beitrag zu einer generellen Debatte in ähnlich gelagerten Fällen
– zur Diskussion stellen darf.
Meine Damen und Herren,
Der Springpunkt der bisher geführten Debatte, die im Kern eine
Geschichts-Debatte ist, lautet: „Wie erinnern wir uns richtig?“
Der lange Schatten der „braunen“ Vergangenheit legt sich demnach
nicht nur über die große Geschichte. Ich habe zu der Frage im
Februar 2008 ein Gespräch mit der Konstanzer
Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann geführt, bei dem ich sehr
viel gelernt habe. Ich möchte einige ihrer Thesen, die einer
vertiefenden Diskussion wert sind, mit eigenen Gedanken
angereichert, referieren:
1. Die Tatsache, dass wir mit Wilhelm von Scholz heute nicht
übereinstimmen, dass wir ihn auch nicht zu einer
Identifikationsfigur liften oder aufmöbeln können, kann mit
Einschränkung nicht bedeuten, dass wir sein Gedächtnis
vernichten und die letzten sichtbaren Spuren dieser Existenz
einfach beseitigen. Das würde heißen, dass wir uns doch zum
Richter dieser vergangenen Generation aufschwingen. Dieses
Mandat haben wir nicht – ich möchte hinzufügen: auch kein
Gemeinderat hat es. Im Gegenteil kann man sagen, es ist immer
das Kennzeichen von totalitären Staaten gewesen, dass sie sich
eine Vergangenheit so zurechtgemacht haben, dass sie unmittelbar
passförmig mit der Gegenwart wurde.
2. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land und man braucht die
Vergangenheit, um Fremdheitserfahrungen machen zu können. Die
Fremdheitserfahrung der Vergangenheit ist eben auch Teil des
eigenen Selbstverständnisses. Man muss auch damit leben können,
dass es im menschlichen Verhalten Schwierigkeiten und
Unstimmigkeiten gibt. Oder auch Distanzen und Fremdheiten, die
man eben über Historisches kennen lernt.
3. Die Kategorien Täter und Opfer – in unserer Debatte steht
schon fest, auf welcher Seite Wilhelm von Scholz zu verorten ist
– sind wenig hilfreich, wenn über historische Bezüge gesprochen
wird (einmal abgesehen vom Holocaust als Geschichtsereignis; da
stehen uns keine anderen Begriffe zur Verfügung). Wir legen dann
schon mal ein moralisierendes Gitter darüber, dann bügeln wir
sie platt. Mit den Kategorien Täter und Opfer, rigoros
angewandt, können wir keine Zwischentöne mehr erfassen. Das
heißt letztlich auch: Wir haben die Vergangenheit passförmig
gemacht mit unseren Kategorien. Martin Walser, der
vielgescholtene Paulskirchen-Redner, spricht in diesem
Zusammenhang zu Recht von einer „vollkommen gegenwartsgeeigneten
Vergangenheit“. Und wir sind – zumal im „Casus“ Scholz – dabei,
uns eine solche gegenwartsgeeignete Vergangenheit zu Recht zu
machen.
4. In einem anderen Kontext sagt der erwähnte Walser: Die
Vergangenheit wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strenger normiert.
Auch das ist richtig, besonders auch im „Casus“ Wilhelm von
Scholz. Wenn ich das anfügen darf: Er durfte Ende der 1950er
Jahre nicht Ehrenbürger werden; der folgende mit seinem Namen
verbundene Schulpreis wurde in den 1980er Jahren abgeschafft;
das Grab hat dank einer Bürgerinitiative überlebt; jetzt fällt
der Weg-Namen ... Wir unterliegen damit einer Moralisierung der
Vergangenheit – das ist wohl ein Merkmal unserer Zeit. Hans
Magnus Enzensberger spricht in diesem Zusammenhang von
„nachträglicher Besserwisserei“.
5. Geschichtserfahrung hat damit zu tun, dass wir Differenzen
und Dissonanzen wahrnehmen. Und wenn wir uns die aus dem Weg
schaffen, dann verlieren wir ganz wichtige Dimensionen unserer
Existenz. Denn die Welt ist nicht so schwarz-weiß und
korrespondiert nicht so direkt mit unseren Urteilen.
6. In den Scholz-Artikeln gibt es zwei Fronten, die sich
gegenüber stehen. Die einen wollen etwas bewahren und die
anderen wollen etwas beseitigen. Die Fraktion der Beseitiger
sagt, wir sind diesem Herrn kein ehrendes Angedenken schuldig.
Das ist eine völlig falsche Formulierung des Problems: Niemand
will Wilhelm von Scholz heute ein Denkmal errichten. Es geht um
die Frage: erhält man bereits bestehende historische Relikte?
Sie können im Idealfall zu einer aktiven Erinnerung beitragen,
ja zu einer Geschichtslektion werden – plötzlich muss man sich
damit auseinandersetzen.
7. Die Scholz-Debatte hat – in welche Richtung auch immer – zu
einem Zuwachs an Bewusstsein geführt – bei jedem einzelnen, der
daran teilgenommen hat. So funktioniert kulturelles Gedächtnis
und demokratisches Geschichtsbewusstsein. Nur, wenn die Spuren
einer Geschichte erst einmal weggeräumt sind, wird hinterher
keiner mehr darüber stolpern können. Ich füge an: Wenn der
Wilhelm-von-Scholz-Weg getilgt ist, wird keiner, der auf ihm
unterwegs ist, nach Wilhelm von Scholz, nach der Tragödie seines
Lebens fragen, die ein Teil unseres Lebens ist.
8. Wilhelm von Scholz steht für einen historischen
Normalzustand, der eben nicht einzigartig ist, sondern
hunderttausendfältig belegt ist. Wir wünschen uns vielleicht,
wenn wir die Spuren dieses Einzelfalls beseitigen, dann sind wir
ihn los. Ein klassischer Fall von selektivem Gedächtnis. Ein
Irrtum.
9. Geschichte lernt man anhand von Einzelbiographien. Anhand der
Biographie des Dichters von Scholz kann man die Ideale und
Probleme des ganzen deutschen Bildungsbürgertums dieser Zeit
wunderbar nacherzählen. Und wenn man verstehen will, warum die
68er so einen Hass entwickelt haben auf dieses Bildungsbürgertum
in den 60er und 70er Jahren, warum sie ihre eigenen Traditionen
in einer Überreaktion zerschlagen und abgeschafft haben, dann
kann man das genau an solchen Biographien studieren.
10. Ein letzte Anmerkung: Wilhelm von Scholz war ein Feigling.
Niemand kann aber von einem anderen verlangen, ein Held zu sein.
In München wird ein Mann von zwei Jugendlichen erschlagen, dafür
gibt es 20 Zeugen, aber keiner griff ein. Hätten Sie dem Mann am
Boden geholfen? Reden wir vom „Dritten Reich“: Viktor Klemperer
nennt schon die Solidarität seiner nichtjüdischen Frau während
dieser Jahre (also sich nicht auf politischen Druck scheiden zu
lassen und zum Partner zu stehen) „reinen Heroismus“. So „klein“
begann das Heldentum damals.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.