AUFSÄTZE
Hermann Bausinger: Elisabeth Rupp und ihre Autobiographie „Im Zweige“
Biographien und vor allem Autobiographien werden oft
überprüft an dem Gerüst verfügbarer objektiver Daten, und
manchmal verweisen Rezensenten mit einem Anflug von Stolz auf
‚Fehler’, die sie entdeckt haben. Aber es handelt sich um einen
fragwürdigen Maßstab; die scheinbar genauere Annäherung an einen
Lebensgang entfernt sich so ein Stück von seiner Verarbeitung,
seiner Gestaltung, die es verbietet, Dichtung und Wahrheit
gegeneinander auszuspielen. Leben, zumal das eigene Leben, ist
immer nur fassbar, nachdem es durch den Filter des Erlebens und
des Erinnerns gegangen ist. Das Buch „Im Zweige“ trägt den
Untertitel „Erlebnis einer Jugend“; schon damit wird
ausgedrückt, dass es nicht primär um die Abfolge der äußeren
Lebensstationen geht.
Trotzdem ist es legitim, das Erzählte mit einigen realen
Befunden zu unterfüttern. Einerseits deshalb, weil manches, was
für die Zeitgenossen selbstverständlich oder leicht erschließbar
war, aus der Distanz eines knappen Jahrhunderts einer Erklärung
bedarf; andererseits auch, weil Rücksichten, die damals zur
Verschlüsselung führten, jetzt nicht mehr angebracht sind.
Elisabeth Rupp, die auf dem Buchtitel als Liesel Rupp firmiert,
war allerdings in dieser
Hinsicht nicht ängstlich. Die Orte der Handlung wurden von ihr
entweder direkt benannt oder so beschrieben, dass die
Identifizierung keine großen Schwierigkeiten macht. Das „große
blaue Wasser“, von dem sie sagt, dass es am Rand ihrer Kindheit
schwoll und plätscherte, ist der Bodensee, den sie in ihrer
Kindheit fast jeden Sonntag mit ihren Eltern aufsuchte. Ganz in
der Nähe, in Ravensburg, ist sie am 23. November 1888 geboren;
dort verbrachte sie die frühe Kindheit, ehe die Familie 1896
nach Stuttgart zog, wo der Vater gehobene Positionen als Richter
und Staatsanwalt bekleidete. Die “große Stadt“ hinterließ bei
dem Mädchen keine starken Eindrücke, wenigstens keine positiven;
von seinem „Scheindasein, das Schule, Arbeit, Essen, Schlafen
und Gehorchen hieß“, träumt es sich weg – und Liesel Rupp eilt
weg in ihrem Buch, hin zu dem Ort, der ihr in all den Jahren die
eigentliche Heimat blieb: dem Haus der Großeltern mit dem
schönen verwilderten Garten in Reutlingen, das in der Erzählung
als Ruthenau getarnt ist. Es ist zunächst der Ort der
Ferienabenteuer, die mehr zählen als der übrige Alltag, und es
wird mehr und mehr der wichtigste Rückzugsort und auch die
Drehscheibe für alle möglichen Ausfahrten und Ausbrüche.
Im Jahr 1909 oder 1910 nimmt sie ihr Studium in Straßburg auf.
Mit Hilfe der Mutter hat sie sich gegen den Vater durchgesetzt,
der sie lieber als Mittelpunkt einer eigenen Familie gesehen
hätte. Er dürfte einigermaßen versöhnt gewesen sein, als sie
sich seinem Fach, der Rechtswissenschaft, zuwandte. Eigentlich
hatte sie andere Träume, andere Pläne: Sie war in Reutlingen
durch Tübinger Studenten und junge Gelehrte mit indischen
Weisheitslehren in Berührung gekommen, alles Fremde zog sie an,
und für die Kunst hatte sie offene Augen – aber die Lehrangebote
überzogen diese Lieblingsbereiche, die für sie voll Leben waren,
mit Staub. So wandte sie sich der juristischen Disziplin mit
ihrer strengeren Architektur zu, angezogen auch von den klugen
Vorlesungen eines jungen Professors, der sich der „einzigen Frau
unter hundert Männern“ mit besonderer Zuneigung widmete. Nach
zwei Semestern wechselte die junge Frau nach Leipzig, das sie im
Buch nicht nennt und, indem sie von einer „norddeutschen
Universität“ spricht, zusätzlich unkenntlich macht –
wahrscheinlich weil sie zwei unglückliche Liebesaffären, in die
sie dort verstrickt war, ausführlich schildert.
Drei Semester lang war sie in Leipzig, vier weitere bis zum
Studienabschluss verbrachte sie in Berlin, wohin inzwischen auch
die Familie gezogen war; der Vater arbeitete dort als Mitglied
der deutschen Strafrechtskommission. Nachdem diese ihre Arbeit
beendet hatte, kehrte die Familie Rupp im Oktober 1913 nach
Stuttgart zurück. In diese Zeit fällt die juristische
Doktorprüfung der Tochter in Straßburg; danach ging sie wieder
nach Berlin, wo sie als Sozialarbeiterin tätig war. Nach wenigen
Jahren zog sie sich, enttäuscht von ihrer beruflichen Tätigkeit,
nach Reutlingen zurück; dorthin war die Familie nach dem
überraschenden Tod des Vaters gezogen. Die Arbeit in Berlin und
die Heimkehr nach Reutlingen fallen in die Anfangsjahre des
Ersten Weltkriegs. Vom „Wahn des Kriegs“ ist in allgemeiner Form
in dem unmittelbar nach dem Krieg niedergeschriebenen
Erinnerungsbuch nur kurz die Rede – aber über das Schicksal
einzelner Personen reicht das Erlebnis des Kriegs in den
Horizont der Erzählung herein.
Die Personen im Buch sind verfremdet, was ihre Namen, und sicher
auch, was einzelne Züge anlangt; aber nach allem, was an
Zeugnissen von damals vorliegt, ist nichts einfach romanhaft
erfunden. Die Autorin erzählt, was sie tatsächlich erlebt hat.
Vor allem wird die Wahrhaftigkeit des inneren Erlebens spürbar,
und dieses innere Erleben ist das eigentliche Thema des Buchs.
Statt eine ‚Nacherzählung’ zu versuchen, die sich auf der
Zeitschiene bewegt, erscheint es deshalb sinnvoller, einige
Dominanten herauszustellen, die über alle Brüche hinweg immer
wieder deutlich werden.
Eine Richtung ihres Denkens und Fühlens hat die Autorin selbst
hervorgehoben, indem sie dem Buch die Widmung voranstellte: „Den
Gefährten Erde, Himmel“. Erde und Himmel sind dabei keine
Gegensätze, beide konstituieren die Natur, der sich Elisabeth
Rupp in sehnsüchtiger Weltfrömmigkeit verbunden weiß. Sie
zeichnet, in vitalen Farbtönen, lebendige Bilder der Natur; aber
der Fluchtpunkt ihres Umgangs mit der Natur in all ihrer
Vielfalt ist die Versenkung, in der alles Nachsinnen aufgehoben
ist – überwunden und doch bewahrt. Einen Satz Laotses macht sie
sich als Motto zueigen: „Vom Sinn sich durchsonnen lassen, und
doch nicht sinnen, ist höchste Lust“.
Fernöstliche Weisheit bildet immer wieder einen Anziehungspunkt,
und exotische Begegnungen tragen Farbe und Fülle in dieses
Leben: die Bücher der Kindheit so gut wie die rauschenden
Tangonächte in Berlin, Vorträge über ferne Länder und Gespräche
mit Menschen, die diese fernen Länder erfahren hatten. Sicher
spielte bei diesen exotischen Neigungen auch das Wirken des
Vaters eine Rolle, der eine führende Stellung in der deutschen
Kolonialbewegung einnahm; aber während er sich mit nationalen
Eroberungsplänen abgab und beispielsweise dafür eintrat, dass
eine Verbindung zwischen Deutschsüdwest- und Deutschostafrika
hergestellt werde, kreisten die Gedanken der Tochter um
„Tierunschuld und Menscheneinfachheit“, hielten fest an der
„Sehnsucht nach heißen farbigen Ländern und tierhaften
Menschen“. Es ist sicher nicht ungerecht, wenn man solche
Schwärmereien einer Portion Naivität zurechnet, die sich auch in
den erotischen Spielen und Ängsten der jungen Frau manchmal
zeigt; aber gleichzeitig handelte es sich um ein Stück
Widerspenstigkeit, ja Widerstand:
Die ganzen Ausbruchsphantasien, aber auch die tatsächlichen
Ausbrüche können nur richtig verstanden werden vor dem
Hintergrund einengender gesellschaftlicher Regeln und Zwänge.
Allzu streng muss man sie sich nicht vorstellen – es gab
genügend liberale Einstellungen im Geflecht der familiären
Beziehungen; schließlich hatte der Großvater Theophil Rupp in
Italien für Garibaldi gekämpft. Aber die Enkelin erlebte
jegliche Einengung, angefangen mit der lästigen Schulpflicht,
als Bedrohung: „Zwang jeder Art schuf bäumenden Widerstand in
mir, und ich spürte ihn schon, wenn andere gerührt von Freiheit
sprachen“. Dies begründete ihre Liebe zu „allem Katzenhaften“,
die sie zuerst nur im Zoo vor den Löwenkäfigen ausleben konnte,
aber auch ihr Fernweh und ihre Lust, sich in der Männerwelt zu
behaupten. Und es vermittelte ihr gleichzeitig ständig ein
Gefühl des Ungenügens, das sie nach immer neuen Möglichkeiten
jagen ließ, ihr Leben „ins Rasende zu steigern“ und so „den
Überschuss der Vitalität aufzuzehren“.
Gemessen an diesem Drang, sich auszuleben und all ihre Potenzen
zu aktivieren, ist ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht, ist
ihre Einstellung zur Liebe auf den ersten Blick befremdlich. Sie
genießt „romantische Gefühlsberührung“, scheut aber zurück vor
allem „Handgreiflichen“, vor schrankenloser körperlicher
Sinnlichkeit. Sie registriert, dass „die Kruste einer gut
gemeinten Erziehung das lebendige Atemholen aller Poren verdarb
und verstockte“; aber das ist nur die halbe Erklärung. Die Ehe
weckt bei ihr „ein dumpfes Gefühl von einer schwer zufallenden
Tür“, von Gefangenschaft also oder doch „von bürgerlicher
Umzäunung, Behinderung des wundervollen, launenhaften Flugs
dahin und dorthin“. Sie will ihr Leben nicht an einen Mann und
damit an dessen Willen binden; deshalb tritt sie in dieser
frühen Lebensphase ihren Freunden meist mit „gewappneter Kühle“
entgegen und erfährt auch innerlich „nur Teilberührungen“.
Die Darstellung kreist um ihre eigenen Gedanken, Gefühle,
Phantasien, manchmal selbstverliebt, aber öfter selbstkritisch.
Und indirekt, in manchen Passagen auch ganz gezielt, entwirft
Elisabeth Rupp ein kritisches Bild der gesellschaftlichen
Verhältnisse, in die sie hineingeworfen ist, mit denen sie sich
aber nicht identifiziert: Schon die Schule folgt nach ihrer
Auffassung dem Gesetz, „aus weichen, träumenden, phantasievollen
Geschöpfen arbeitende, das heißt funktionierende Maschinen zu
machen“; in den städtischen Gesellschaften sieht sie überall
„die selben gelangweilten, ausverkauften Gesichter“; und nicht
nur in den Fabriken, sondern auch bei der „geistigen
Zwangsarbeit“ in den Kontoren mit ihrer „Minutenrationierung“
fühlte sie sich „allmählich nicht mehr als Mensch, sondern als
Maschinenteil“.
Selbst in den Wissenschaften dominiert nach ihrer Beobachtung
das Mechanische, die schematische Anhäufung von Wissensstoff.
Wissenschaft – das war für sie „zu dürr, zu hirnhaft; es war zu
wenig Körper, Temperament, Lebenslust darin“. Trotzdem sucht sie
ihre Bewährung in diesem Feld; aber sie lehnt es ab, sich „mit
den ödesten Ausschwitzungen längst verdorrter professoraler
Gehirne“ zu befassen. Für ihre Doktorarbeit wählt sie ein
Problem, mit dem sie – schuldhaft oder nicht – auf ihrem eigenen
Weg konfrontiert wurde: Ein junger Dozent, mit dem sie in einem
schwierigen Liebesverhältnis verbunden war, hatte sich
erschossen; sie erörterte in einer immer noch lesenswerten
Auseinandersetzung mit juristischen Normen „Das Recht auf den
eigenen Tod“. Durch das Schicksal des Freundes hatte sich „öde
Sachlichkeit“ für sie „in lebensvolle Unmittelbarkeit
gewandelt“; die „Arbeit, die aus einem Toten wuchs“, gab ihr
Halt und Befriedigung.
Elisabeth Rupp – das zeigte diese rechtswissenschaftliche
Untersuchung und zeigten auch ihre späteren Abhandlungen auf
ganz anderem Gebiet – war durchaus in der Lage, messerscharf zu
denken und logisch zu argumentieren. Aber ihr künstlerisches
Interesse und Vermögen wurde nie verschüttet. Als sie „Im
Zweige“ schrieb, waren bereits zwei Gedichtbände von ihr
erschienen; mitten im Krieg schrieb sie ihre „Wiesenlieder“ und
danach neue Gedichte, die sie unter dem Titel „Wolke * Wiese *
Welt“ veröffentlichte – Hinweis auf ihre eindringliche, manchmal
ins Mystische gesteigerte Naturerfahrung. Auch der
Entwicklungsroman „Im Zweige“ verlangt – und verdient – in
erster Linie eine literarische Würdigung. Es gibt darin
zweifellos Wendungen und Passagen, die allzu gefühlig
daherkommen – „Ströme von Tränen“ etwa, die der Heimwehkranken
„entstürzten“, oder die verdächtig vielen Beispiele, in denen
etwas „wogt“: Der Eindruck eines Lichtbildvortrags wogt „wie ein
gefährlicher Krankheitsstoff“ in ihr, sie erfährt „ein
wundervolles Wogen der Energien“, im Liebesspiel wogte „ein
Schatten der Angst“ auf sie herab, die „hinreißende
Festlichkeit“ des Frühlings wogte draußen heran, „riesige
Menschenmengen wogten“ in der Bahnhofshalle, und „mit einer
wogenden Zärtlichkeit für jede beginnende Knospe“ ging sie durch
den Garten. Aber abgesehen davon, dass eine derart massierte
Aufzählung immer einen Anflug beckmesserischer Krittelei hat –
solch kunstgewerbliche Stilisierungen ins Kostbare finden sich
in jener Phase der literarischen Neuromantik auch bei berühmten
Autoren. Im ganzen imponiert der Text von Liesel Rupp jedenfalls
gerade durch den unkonventionellen Zugriff auf die Wirklichkeit,
der sich auch sprachlich äußert, und durch ihre Fähigkeit,
äußere Sachverhalte ebenso wie Stimmungen und psychische
Gefühlslagen auch in ihren Nuancen zu charakterisieren.
Dies wird deutlich in raschen, fast beiläufig hingeworfenen
Vergleichen: „Wie der Gärtner zum Frühbeet“ kommt die scheue
Frau zum Mund des Geliebten; und „die lieben Nächsten“ sind
„stets mit Klotz und Radschuh bei der Hand“, wo sich etwas ihrer
Enge entziehen will. Die sprachliche Kraft zeigt sich aber auch
in der wütenden Polemik, mit der die Schriftstellerin die
sozialen Verhältnisse attackiert. Sie verwirft den Begriff
„arbeitsscheu“ angesichts des trüben Milieus, in dem die
Menschen leben müssen, deren Lage sie in Berlin erkunden sollte:
„Was hilft es, dass man ihnen ermunternd das saure Wort Pflicht
in die Ohren schreit? Wird die Luft dadurch weniger schlecht und
schädlich, die Wand weniger kahl, der Stumpfsinn weniger
erdrückend?“
Solche ernsten Passagen sind häufig in dem Buch, das ja Probleme
– äußere und innere Probleme – schildert. Aber es gibt auch
Stellen, in denen die Distanzierung von der biederen Bürgerwelt
und der Spott über sie eine humoristische Färbung annehmen –
etwa bei der Charakterisierung einer Vermieterin in Leipzig:
„Das Fräulein von Busse-Nissum, ältlich, gediegen, wollte junge
strebende Damen als Gesellschaft, Anregung, gewissermaßen zum
Selbstkostenpreis in ihrer geräumigen Wohnung um sich sammeln;
sie war von sympathischen Umgangsformen und der undurchsichtigen
Dummheit welterfahrener, geschliffener Leute, die für jede
Situation einen Vorgang bereit halten und selten entgleisen,
solang die Schienen parallel sind.“
Die eindringlichste Virtuosität entfaltet die Autorin aber, wo
sie ihren Lieblingsort beschreibt: den Garten beim
großelterlichen Haus in Reutlingen. Gleich auf den ersten Seiten
des Buchs schildert sie die freundliche Naturszenerie: „Im
hinteren Teile standen alte Bäume, die im Sommer eine riesige
Laube spannten; aber der Waldboden trug vom Februar ab Blumen,
zuerst weiß und gelb, dann war er eines Tages blau wie ein
sommerlicher See und dann rot und weiß, bis endlich alles welk
am Boden lag und man vor lauter Freude am Blühen der Bäume
vergaß, darüber traurig zu sein. (...) An das Wäldchen grenzte
eine Wiese, bei der man vergaß, dass sie in einen Garten gehörte
und endlich sogar an einen Zaun stieß. Sie war von irgendwo
draußen hereingeweht, auf einem warmen Sommerwind
herbeigetragen, und hatte Blumen, Bienen, Schmetterlinge,
Ameisen und Heuschrecken, wie eine richtige, wildgewachsene.“
Und gegen das Ende ihrer romantischen Jugendschilderung malt sie
noch einmal aus, wie sie den Garten erlebte: „Und es brach ein
unfasslicher Frühling herein. Mit den Dirlitzen fing es an,
blassgelbe Blüten wie Schaum; dann schlugen die
Stachelbeersträucher aus. Mit einer wogenden Zärtlichkeit für
jede beginnende Knospe ging ich die Wege entlang und sah täglich
wachsendes Grün; Weißdorn, Rotdorn schimmerten, die Kastanien
entfalteten engverpackte, runzlige Blätter und Farnkräuter
entrollten seltsame Knäuel. Die großen Buchen im Hof wurden
lebendig; das war das Schönste jetzt: dieses kindlich helle,
zartgrüne Leuchten in allen Fenstern. Und dann kam das Blühen:
Seidelbast und Forsythia zuerst. Die gelben Sterne hingen lose
verstreut in den spiraligen und kraus verschlungenen Zweigen aus
Grün und Braun heraus, - ein runder Riesenbusch strahlte wie ein
blonder Frauenkopf in Sonne. Ich ging in der ersten herzhaften
Wärme hin und her und berauschte mich an dem Sprühregen gelber
Sterne; die Büsche leuchteten wie Sonnen“
Wer so schreibt, so farbig und genau, begeistert und
begeisternd, scheint am Beginn einer literarischen Laufbahn zu
stehen; und in jenen Jahren unmittelbar vor und nach dem
Weltkriegsende sah Elisabeth Rupp in der Schriftstellerei ihre
Berufung und ihren Beruf. Hermann Hesse hatte Gedichte von ihr
in eine Zeitschrift aufgenommen und den Anfang von „Im Zweige“
in seinem „Alemannenbuch“ abgedruckt. Zu ihm trat sie in eine
sehr persönliche Beziehung. Die Begegnung fand ihren
literarischen Niederschlag in der Erzählung „Malén und Eobar“,
die das Erlebnis einer nunmehr ungehemmten Liebe in eine
exotiche und etwas schwüle Szenerie verlagert. Aber als dieses
Buch 1922 – wiederum im Berner Seldwyla Verlag – erschien, war
Elisabeth Rupp bereits auf dem Weg nach Argentinien. Sie war den
beengten und oft bedrückenden Nachkriegszuständen in Deutschland
entflohen und hatte ihren Traum verwirklicht, fremde Weiten zu
erleben; aber sie war im wesentlichen eingeschränkt auf die
Estancia, in der sie als Hauslehrerin die Kinder der deutschen
Besitzer betreute, sodass sie auch diese Situation als „Kerker“
erlebte. Schon nach einem knappen Jahr fuhr sie heimwehkrank
zurück, hatte auf dem Schiff aber eine Begegnung, die ihrem
weiteren Leben einen festeren Rahmen gab, ohne es an die
üblichen Routinen einer bürgerlichen Existenz zu ketten. Sie
verliebte sich in den Schiffsoffizier Jan Gerdts und heiratete
ihn. Er fuhr weiter zur See; am 20. April 1945 erschoss er sich
auf der „Cap Arcona“, nachdem er sich geweigert hatte, das in
der Lübecker Bucht liegende Schiff zu einem Flüchtlingstransport
auslaufen zu lassen. Das Schiff war nach seiner gut begründeten
Einschätzung nicht mehr seetauglich und vollkommen schutzlos
gegenüber den englischen Tieffliegerangriffen; zwölf Tage später
war es das Ziel eines Bombenangriffs, dem Tausende von
KZ-Häftlingen zum Opfer fielen, die auf das Schiff gebracht
worden waren.
Elisabeth Gerdts-Rupp hatte inzwischen, 40jährig, ein zweites
Studium aufgenommen: Geographie und Völkerkunde. Sie macht weite
Reisen, geleitet nicht mehr von vagem Fernweh allein, sondern
vom Interesse an den Strukturen und den Geheimnissen fremder
Kulturen. Im Jahr 1934 besteht sie ihre zweite Doktorprüfung;
ihre Dissertation behandelt die Glaubensvorstellungen und
Bräuche der Araukaner, eines chilenischen Indianervolks. Sie
unternimmt weitere Studienreisen nach Afrika und Südamerika; von
dort bringt sie den Übernamen „Federschlange“ mit, den sie
später als Unterschrift unter private Briefe, manchmal auch
unter halbamtliche Schriftstücke setzt. Sie arbeitet am
Hamburger Museum für Völkerkunde, im Zweiten Weltkrieg und nach
dem Krieg am Völkerkundlichen Institut der Universität Tübingen,
in dem sie fast zwei Jahrzehnte den Lehrbetrieb praktisch allein
aufrecht erhält, ohne dass sie eine feste bezahlte Stellung hat.
Im Jahr 1950 veröffentlicht sie ihre Tagebuchnotizen aus der
Zeit in Argentinien; der Band mit dem Titel „Mariquinia“ enthält
darüber hinaus auch Ergebnisse ihrer sonstigen Fahrten,
araukanische und indische Überlieferungen und Reisebilder aus
Tunesien. In der Folge konzentriert sie ihre literarische
Produktion auf eine kleine Zahl von Gedichten; im Jahr 1968
fasst die 80jährige einen Teil der lyrischen Ernte zusammen
unter dem für sie bezeichnenden Titel „Tier und Landschaft“.
Ihre letzten Lebensjahre verbringt sie in der Landschaft ihrer
frühen Kindheit: Auf der Mettnau hat sie am Rand des
Naturschutzgebiets ein Haus gebaut, und dem heimatlichen
Naturschutz gehört nun auch ihr Engagement – bis zu ihrem Tod am
18. März 1972.
An Elisabeth Gerdts-Rupp wurde erinnert in Allmende 23, S.47-56
und Allmende 28/29, S. 19-38. Biographische Skizzen enthalten
außerdem Manfred Bosch: Bohème am Bodensee, Lengwil 1997 (S.
268-272: „Das ist noch nicht das Richtige, das ist alles nur
vorläufig“) und Hermann Bausinger: Ein bisschen unsterblich,
Gerlingen 1999 (S.245-255: Ein Leben wie Feuer. Elisabeth
Gerdts-Rupp wollte in den Tierhimmel).