AUFSÄTZE
Beat Brechbühl: Endlich waren die Grenzen unterm Eis
«Heute vor 40 Jahren» (jetzt sind es 45) war die Kleine
Eiszeit in Luft, Land und Wasser, etwa 4 Wochen dauerte die
Seegfrörni, und heute noch buddle ich Wurzeln von Bäumen aus der
Erde, die 1963 erfroren sind.
Damals versuchte ich, in Romanshorn, ein paar Meter über dem
See, in der schon wackligen Beiz Zum Frohsinn die oberste
Wohnung zu bewohnen. Diese Wohnung wäre für Süditalien
vielleicht geeignet gewesen: die Fenster hatten so viel
Spielraum, dass Regen und Bise relativ ungehindert eindringen
konnten, so auch die Hitze im Sommer und die Kälte im Winter.
Das Klo stank im Treppenhaus zwischen zwei Stockwerken, klar,
dass darin keine Heizung war. Die Wohnung hätte einen exklusiven
Vorteil gehabt, hätte der 23jährige Junge Mann diesen Umstand zu
würdigen gewusst: Des Frohsinns Serviertochter, so hieß die
damals, musste, um in ihr Zimmer zu gelangen, durch meine
Wohnung und, da ich Wohn- und Schlafzimmer getauscht hatte, also
durch mein Schlafzimmer. Die junge Frau war sehr hübsch und
anregend; letzteres vielleicht doch zu wenig, um mich von meiner
Arbeitswut im Clou Verlag Egnach und von der Gastfreundschaft
von Schwitters, meinen Arbeitgebern und heute noch besten
Freunden abzubiegen.
Kurz, ich heizte die Öfchen in Küche und Schlaf(wohn)stube
glühend, aber die Bise war stärker. Ich fror arg, meinte aber
als junger Mann das aushalten zu müssen, es war ja weder Not
noch Krieg.
Dass die Seegfrörni ein Jahrhundertereignis sei, war mir klar.
Dass man mit Lastwagen und Pferdewagen auf dem Eis herumfuhr,
abgesehen von den Tausenden Gfrörnifans zu Fuß, habe ich später
so nur im finnischen Winter erlebt.
Zuerst stank mir dieses Gfrörnigetue mächtig; ich war ja ein
alternativer Mensch, und ich fand diesen Eis-Tourismus schwach,
blöd und voll daneben.
Indes stand ich, während meine Öfchen die Wohnung ein bisschen
wärmen sollten, oft am Küchenfenster, träumte und sah, nachdem
ich die Eisblumen weggewischt hatte, auf den See hinaus. Diese
riesige, weiße Eisfläche, auf dem Wasser schwimmend und an den
Rändern festgeklemmt (also wie schwimmendes Festland), begann
mir zu gefallen. Vom grafischen und anderm Gestalten her liebe
ich vorerst weiße, unverbaute Flächen, je größer desto besser.
Mit «Platz und Raum» komme ich immer zu Rande – keine Wohnung zu
groß, keine alte Fabrik zu weitläufig, um nicht innert kurzer
Zeit von mir und meinen Sachen vollständig belegt zu sein.
So hatte ich keine Mühe mit der Seeeisfläche. Zuerst waren mal
die Landesgrenzen – die ich mir nirgends, auf oder in einem See
schon gar nicht, vorstellen kann –, endlich unterm Eis,
unsichtbar und unwirksam.
Nun stießen die Augen nicht mehr an Glasmauern, die Körper
wurden nicht mehr untersucht, auf Geldliches geprüft,
festgehalten, abgewiesen. Die Sprachen, die Dialekte hörten
nicht mehr an einem Maschendrahtzaun einfach auf.
Die Region hatte 539 Quadratkilometer offene, unverbaute Fläche
gewonnen. Diese Fläche war außer mit Schifffahrt nicht zu
kommerzialisieren, es bedeutete also – gemäß Platon glaube ich –
Ideales Gebiet, Gebiet zum nicht Nutzen, nur zum Ideen laufen
lassen, zum Auslüften schwüler Luft hinter selbstgebauten
Mauern.
Wer hätte dieses grenzenlose Gebiet auf Zeit in Griff nehmen
wollen? Wer hätte die Tausenden von Eiswanderern passmäßig
kontrollieren sollen? Wie wo wann? Wozu? Schmuggler zum Beispiel
machen es sich über die normalen Zollübergänge wesentlich
einfacher. Also: Meine verachteten Nationalgrenzen waren
eingefroren. Sowas verleiht einem vom Thurgauer Bodenseeufer aus
ein gewisses Feldherrensyndrom. Mit ungewohnt großer Geste
konnte man die «Regio» neu aufteilen – oder aus dem Ganzen Eins
machen. Als schon damals begeisterter und heute überzeugter und
«durchgebackener» Regionalist hatte ich – Eis / Wasser hin oder
her – die Euregio Bodensee erfunden, völlig allein und
ungestört. Napoleon hatte Heere zur Verfügung gehabt und
eidgenössische Untertanen-«Kantone», um die Schweiz neu
einzuteilen. Ich hatte nur einen ziemlich kühlen Ausblick auf
den See und meine jungen Ideen, «um die Verhältnisse zu
korrigieren». Napoleon hat es geschafft, dass die Thurgauer 2003
200jähriges feiern mussten. Ich hab was anderes geschafft: Ich
kam o Schreck nach 25 Jahren wieder, habe thurgauer und andere
multikulturelle MittäterInnen gefunden, und ab den letzten 20
Jahren feiern wir nach harter Arbeit in diesem Canton ab und zu
auch etwas, relativ bescheiden, aber manchmal fröhlich – dem
1963er Eis sei Dank, und der damit ausgelösten Einfrierung und
Aufhebung Nationaler Grenzen.
Was ist mit diesen Grenzen heute? Mäuerchen, von Rechts recht
hoch gebaut, um ein ganzes Land herum, inkl. Alpen und Berge und
Flüsse und Jura. Mäuerchen in vielen Köpfen noch. Wenn ich jung
genug wäre, würde ich spätestens jetzt das Alpenland gründen –
es reichte von den Savoyer Alpen bis über die «Slowenische
Schweiz» hinaus und wäre einer der stärksten Faktoren im «neuen»
Europa.
Aber vielleicht sollte ich mich doch nicht zu alt fühlen und ein
alpenländisches Modell ausarbeiten; schon einer nächsten Kleinen
Eiszeit wegen.
Pfyn, 5. Februar 2003; aktualisierter Ausdruck 22. Juli 2008