AUFSÄTZE
Leopold Ziegler: Der Bodensee
Was unseren Bodensee von allen Alpenseen unterscheidet, den
ebenbürtigen Bruder im Südwesten der Schweiz nicht ausgenommen,
ist seine Ferne und Weite. An keiner Stelle seiner so vielfach
geformten Ränder und Randerhebungen, nicht einmal in der
Bregenzer Bucht, gibt er sich dazu her, ein blosses Spiegelbild
für himmelstrebendes Gefels zu sein, sozusagen ein purer Vorwand
der Natur, den reichbewegten Umriss ihrer Berge mit ihrem bald
jähen Sturz, bald sanften Schwung zum Tale in ein besonders
wirksames Licht zu setzen. Nein, so weit sich dieser See
ausdehnt und erstreckt, bleibt auch er selbst fürs Auge die
selbstherrliche Gegebenheit, indem er es allein schon
unaufhörlich durch sein ewig wechselndes Licht- und Farbenspiel
zwischen Morgen und Abend beschäftigt. Denn dies ist ja die
wahre Unerschöpflichkeit des schwäbischen Meeres, dass es in
jeder Tagesstunde und Jahreszeit, bei jeder Bewölkung,
Benebelung und Besonnung ein anderes ist und eine allgemeine
Aussage, welches seine eigentliche Farbe sei, von vornherein gar
nicht zulässt. Wenn die übrigen Alpenseen entweder blau oder
grün sind, missfarben oder fahl, so sieht der Bodensee je nach
Windrichtung und Windstärke, je nach Sonnenstand und
Luftfeuchtigkeit bald flaschengrün gefärbt aus, moosgrün,
achatgrün; bald brütet er unbewegt und wie mit einer dünnen
Ölschicht übergossen in einem stumpfen Eisengrau, das sich
gelegentlich bis zur toten Bleifarbe verdüstert; bald leuchtet
er, ein zarter Widerschein des Himmels, in einem sanften Blau,
welches bei östlicher Luftbewegung bis zu einem fast harten
Ultramarin, ja Kobaltblau übergehen kann: um dann, dies
namentlich in sommerlichen Abendstunden, in allen bunten Tinten
des Opals verhalten aufzuglühen oder gar wie ein faltenlos
ausgespanntes Stück Seide im lichten Blaugrün des Türkis zu
erschimmern. Allzu arm ist die Sprache an Bezeichnungen für die
zahllos gestuften Abschattungen innerhalb des Farbenkreises, die
der See schon bei der leisesten Kräuselung seiner Oberfläche
erleidet. Aber gerade in ihrer Unsäglichkeit bezaubern sie das
Auge unwiderstehlich und versetzen uns leicht in jenen
glückhaften Rausch der Sinne, den uns Deutschen sonst eigentlich
nur der Süden spendet. Wie dem übrigens sei - die Farben, eben
diese Farben, entführen also den Betrachter immer wieder in die
sehnsüchtige Weite, in der ich das Merkmal unseres Bodensees zu
gewahren glaube. Wie gern wir auch mit unserem Auge beim
nächsten verweilen möchten, immer wieder entgleitet es uns und
schweift nach den gegenüberliegenden Ufern, wenn diese sichtbar
sind, oder nach den meerhaft entfernten Horizonten, wenn die
jenseitigen Ufer unsichtbar bleiben. Vielleicht ist diese so
überredsame Ferne und Weite dann aber auch der letzte Grund,
warum sich der Bodensee nicht eigentlich malen lässt. Die
Ausdehnung seiner Plane scheint sich zur Not noch in Linien und
Flächen, nicht aber in wirkliche Farben übertragen zu lassen,
und das Pathos seiner Geräumigkeit scheint sich in dem Masse,
als sie das Gemüt beschwingt, dem Bilde und seinen
Ausdrucksmitteln zu versagen. Vielleicht darf ich an diese
Feststellung noch ganz im Vorbeigehen den wichtigen Umstand
knüpfen, dass diese natürliche Weiträumigkeit der
Bodenseelandschaft sozusagen ihrer historischen Weitläufigkeit
durchgängig entspricht, und dass hier eine beinahe einzigartige
Übereinstimmung von Natur und Kultur obwaltet. Denn wer immer
diese das Herz gleichsam entengende Landschaft leiblich
durchwandert, der wandert geistig durch die zwölf Jahrhunderte
unserer deutschen Vergangenheit, - der stösst bei jedem Schritt
auf ihre herrlichsten Denkmale von der romanischen Zeit bis auf
die Gegenwart. Der Bodensee, könnte man sagen, ist die
Landschaft unseres deutschen Anfangs. Hier beginnt der Deutsche
im Namen Gottes zu roden und zu pflanzen, zu bilden und zu
bauen, zu dichten, zu singen und zu sinnen; hier setzt sich
jeder Fussbreit der sichtbaren Landschaft draus-sen um in ein
Stück Seelenlandschaft drinnen, und wie es den leiblichen Blick
unwiderstehlich in die Fernen des Raumes zieht und lockt, so
zieht und lockt es den geistigen Blick unwiderstehlich in die
Fernen der Zeiten.
Mit all dem will ich keineswegs behaupten, dass die
Höhengestaltung der Ufer und Buchten für unseren See eine bare
Nebensache sei. Wenn auch das Gebirge nirgends so nahe an das
Wasser rückt, dass es die Vorherrschaft der Waagerechten und der
Fläche ernstlich beeinträchtigt, trägt es dennoch das seinige
zur Charakteristik der Landschaft bei. Im Norden vielfach
geradezu in die Ebene abdachend und verflachend, stossen die
Berge an anderen Stellen bis nahe an den Wasserspiegel vor,
Vorreiter der Alpen, die gleichsam die Ankunft gewaltiger
Heersäulen melden. Und auch jetzt scheint uns die Natur all ihre
Möglichkeiten vorführen zu wollen, die sie zwischen Gipfel und
Tal, zwischen Gebirge und Flachland bereit hält. Kaum ist es zu
glauben, dass es derselbe See sei, der am Reichenauer oder
Mettnauer Ried etwa den lieblichen Gestaden des Chiemsee ähnelt;
und wiederum am Bodanrück bei Sonnenuntergängen des Spätsommers
einem der nördlichen Fjorde Norwegens gleicht, umhaucht von
aller herben Einsamkeit und Weltverlorenheit der Lofoten;
derselbe See, dessen Küste ein abendlicher Blick auf die
Bergkegel des Hegau mit Griechenland verwechseln könnte;
derselbe See, den im Winter der röhrende Föhn in hochbrandenden
Wogenstürzen über die Ufermauern Friedrichshafens wälzt;
derselbe See, der einem Sohn der westpreussischen Landschaft
Heimweh macht, weil ihn ein Blick auf die Uhldinger Landzunge
von gewissen Stellen aus an die Ostsee bei Zopott gemahnt. So
finden wir im Bodensee die Küsten und Gestade fast aller
europäischen Meere irgendwie angedeutet und vertreten vom
nördlichen Atlantik bis zum Mittelmeere. Mit nichts in der Welt
aber ist er zu vergleichen an jenen Frühlingstagen, wo sich über
seine prangenden Blütengärten die Silberkette der Alpen spannt,
vom Tödi und Glärnisch bis zu den Oberstdorfer Gabeln und
Hörnern, sie alle gelassen überwölbt vom mächtigen Gestühl des
Säntis als ihrer königlichen Mitte, ein Gebirgsstock für sich,
wie ihn die Griechen unfehlbar als Thron und Wohnsitz der Götter
verehrt hätten. Er hält in hoher Majestät den See und sein
Gefilde in guter Hut.
Aus: „Frankfurter Zeitung”, 14. November 1935. Mit
freundlicher Genehmigung der Leopold-Ziegler-Stiftung.