AUFSÄTZE
Peter Renz: Was bleibt? - Über Hermann Kinder.
Mir scheint, als hätten wir uns einmal als Helden gefühlt.
Die ersten Bücher wie helle Fanfaren, Auftakt mit glänzenden
Schultern und Unschuldsblick, Antrittsbesuche in einer
literarischen Öffentlichkeit mit Familienanschluss. Es kam alles
anders. Und das ist vielleicht gut so.
Als wir – vermutlich auf ewig die einzigen – beim gemeinsamen
Empfang des Bodensee-Literaturpreises in Überlingen ohne
Krawatte erschienen (unabgesprochen hatten wir sie beide
vorsichtshalber in die Innentasche des Jacketts gestopft), hätte
so etwas beginnen können wie eine Parallel-Laufbahn. Verbandelt
mit der Uni Konstanz, schreibende Zeitgenossen aus dem
Mittelbau. Während ich bald darauf den Abenteurer spielte, hast
Du Dich im Mahlwerk des Universitätsbetriebes aufgerieben:
»Freiwillig bin ich nicht an diese Uni gekommen, freiwillig
bleibe ich hier.« Das klang ein bisschen nach Resignation.
Inzwischen haben wir längst grüne Bärte. Und ich ahne nur noch,
wovon Du geträumt hast. Während ich schreibe, gibt mir nebenan
ein Specht auf der losen Rinde des alten Zwetschgenbaums den
Takt an.
Die Zeit hat uns keine Peinlichkeit erspart. Aber auch keine
Lust vermiesen können. Deine gezähmte Wildsau von Ernsttal, die
ihre Zahmheit vergaß, die laut schreiende Dame auf den Rücken
nahm und davon raste. Was für ein Leitbild! Dass sich einer wo
immer es geht aufs Fahrrad schwingt, von Konstanz bis Wangen
radelt, um dort gut durchblutet aufzutauchen unter welken
Autorengesichtern, hatte was Provozierendes. Offenbar ist unsere
Gegend so winzig, dass man sie leicht durchradeln kann. Später
wandern: Wo wir viel zu leichtherzig lamentieren, wie sehr uns
die schöne Landschaft hier entweder besoffen mache oder krank,
hast Du sie als Fremder – als Zugereister, der Du immer
geblieben bist – gelobt als Arkadien. Wenn es um Heimat geht,
sind wir schon immer befangen. Du nicht. Zugereist aus
Westfalen, und dann immer wieder regelmäßig aus Köln, ein
Pendelverkehr der Notdurft und Liebe, hast Du leicht sagen
können: »Aber gut, es ist euer Bodensee. – Trotzdem ist es auch
meiner«. Vielleicht kann sich unsere Gegend wenigstens einmal
zugute halten, Dich Reisenden zwischen den Provinzen
herausgefordert, angeregt, gezwungen zu haben, all die schönen,
bösen, verzweifelten Texte zu schreiben. Niemand hat mir so
deutlich vor Augen geführt, dass es so etwas gibt wie den Eros
des Verletzlichen, gerade wenn es sich um Tapferkeit bemüht. Die
verletzlich Tapferen haben unserer Zeit immer wieder Wahrheiten
entwunden, die der Selbstsicherheit nie aufgeblüht wären.
Wir müssen dableiben. Und gingen doch am liebsten mit Dir. Und
können nur hoffen, Du wirst dort, wo du jetzt hingehst, merken,
was Du an uns gehabt hast. Erinnerungsfetzen: Noch einmal die
Geschichte Revue passieren lassen: Gottverdammte Sicherheit der
Köpfe, von keinem Zweifel angenagt … Was bleibt, wenn sie kein
Papier mehr haben für unsere leuchtenden Sätze? Digitale
Vermächtnisse? Die Hilflosigkeit der Suchmaschinen, etwas zu
bewahren, was nur ein Gefühl sein könnte.
Die Jugend dieses Zeitalters, die wir nur noch bestaunen können,
hat längst einen Weg gefunden, die Abenteuer zu katalogisieren
auf ein ihnen verständliches Maß: Wer sich zu Dir durchgoogelt,
findet als Eintrag in den Katalogen der University of Michigan,
digitalisiert am 20. März 2008, zu Deinem furiosen Roman Ins
Auge: »Herzschrittmacher, Raleigh, Netzhaut, Biochip,
Schielbacke, Teufenbach, Botanisiertrommel, Blindenhund,
Druckschleuse, Spätzle, Pappel, Feldstecher, Rehentobel,
Kompressor, Korbsessel, Scampi, Sous-Lieutenant, Sehnerven,
Sweatshirt«. Das hat, ungewollt, schon wieder was. Wer Dir mit
Suchbegriffen nachspüren will, stößt zur Kriminal-Novelle Alma
auf: »Zett, Tina Turner, Alma, Nescafe, Birkenfeige, Caracas,
Borsalino, Radhelm, Berber, Zebrastreifen, Kofferkuli, Pauls
Spiegel, Kastanie, Bahnhofsmission, Rollo, Litfaßsäule,
Intercity, Heilfasten, Platanen, Telefonzelle…« Wie immer diese
Zufallsgeneratoren der Wortlistenerzeugung funktionieren mögen,
es gelingt ihnen nicht, die versteckte Virilität solcher
Aufzählungen zum Verschwinden zu bringen. Einzeln, für sich
genommen, wären diese Wörter vielleicht unschuldig geblieben.
Von Maschinen aufgelesen und zusammengesucht entlang Deiner
Texte, werden selbst solche schlichten Wörterreihen zum
Kaleidoskop der Welthaltigkeit Deiner Literatur. Digital
gehäckselt, bleibt sie immer noch widerständig. Unter Der
Mensch, ich Arsch finden sich: »Möpse, Kopfhörer, Finnland,
Telefonzelle, Palästinensertuch, Intercity, Max Frisch,
Jerxheim, Vogelbeeren, Hornissen, Bilder im Kopf, Nordsee,
Büstenhalter, Tonio Kröger, Rolltreppe, Franz Kafka,
Gletscherspalte, Südfall, Bauchnabel, Motorrad«. Ein digitaler
Rosenkranz Deiner Texte. Jedes Wort eine blitzende Perle am
Kinder-Nachthimmel über dem Thurgau in Fremd. Daheim. Hiesige
Texte, worüber es bei Google weltweit orakelt: »Rainer Brambach,
Literaturtelefon, Weinhefe, Bodanrück, Kreuzlingen, Meersburg,
Überlingen, Thurgauer, alemannische, Romanshorn, Gruppe 47,
Satyr, Deggenhausertal, Fistelstimme, Martin Walser, Gerold
Späth, Universität Konstanz, Kommunist, Herr Schwyzer, Adolf
Hitler«. Lauter Wörter zu einer Heimat, die wir längst nicht
mehr haben. Wir nicht und Du nicht.
Was wird die Stichwörter-Sammlung demnächst über Mein Melaten
verzeichnen? Wird man noch etwas spüren können von Deinem
köstlichen Sarkasmus über den Skandal des Alterns? Wird etwas
bleiben von der wahnwitzigen Komik und Deinem trostlosen Humor?
Was bleibt von der letzten Wanderung des Erzählers auf der
Schweizer Seite des Bodensees, als er in einer Kneipe vor einem
Glas Elisabethenberger sitzend, am Nebentisch hört, wie »frische
Postrentner unter aufgespannten Schirmen vom Rest ihres Lebens
(träumten): nur noch reisen, reisen, reisen und etwas Soziales.
Altenhilfe zum Beispiel. Hospiz aber lieber nicht. Eigentlich
war, dass man den Enkel mal betreute, schon sozial genug. Die
Frage der Pöstler war, ob man das, was man schon gesehen hatte,
noch einmal sehen sollte oder etwas ganz Neues«. Für den
Erzähler gibt es nur zwei Angelpunkte: »Ich war hier vor Ort und
in Köln. Das genügte meinem Auflösungsverlangen. Voller
Entgrenzungswohlbefinden schlug ich Räder zwischen Wolken und
Himmel. Kopfgigel im Hirnflug. Wofür brauchte ich da den
Himalaya?« (…) »Wieviel Zeit ich schon erlebt hatte«, überlegt
der Erzähler wenig später, »sah ich an der Stadt Singen unter
mir, die ich schon anders gekannt hatte. Wie wenig Zeit ich
erleben würde, sah ich am Alpsteingebirge, das seinerseits auch
nur ein versteinerter Furz im All war«. Und er konstatiert: »So
wurde man zur Murmel, zur Pusteblume in Gottes Zeitvertreib. Ich
war nichts. Das war es, was Juliane an mir gehasst hatte. Die
Einsicht in sein Nichts schien mir ein Anfang. Während die
ehemaligen Pöstler für Südafrika sparten, trank ich noch einen
kleinen Elisabethenberger, den ich mir auslief zum nächsten
Hügel, von dem aus ich dem See zuschrie: Ich bin ein Nichts.
Dann in Richtung Köln: Ich komme«.
Wir kämen am liebsten mit. Und müssen doch dableiben. Und uns –
den ganzen Hermann Kinder noch einmal lesend – erinnern.
Gespannt auf jedes weitere Buch, das noch kommen wird. Wo doch
Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem uns niemand
vertreiben kann.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages
entnommen aus: Christof Hamann und Siegmund Kopitzki (Hrsg.):
Hermann Kinder. Eggingen: Edition Isele 2008 (= Porträt 8).