AUFSÄTZE
Jochen Kelter
Unsere Region ist – verglichen mit den bewegteren Tagen des Regionalismus – diskussions- und debattenarm geworden, kurz: sie ist wieder Provinz. Dies findet und behauptet Jochen Kelter in einem Essay, den wir in zentralen Auszügen präsentieren – in der Hoffnung auf Stellungnahmen, Ein- und Widersprüche, Wortmeldungen.
Vom allmählichen Verschwinden der Gegend.
Das Ende der Region, des Regionalismus und des sozialen und
intellektuellen Austauschs (Auszug).
(...) Bis in sehr ferne Zeiten, deren Echo beinahe gänzlich
verklungen ist, reicht der literarische Ruhm der Region. Zu den
Mönchen der Reichenau und des Klosters S. Gallen. Walahfrid
Strabo, Notker Balbulus, Heinrich Seuse. Sogar Wolkenstein, der
wüste Barde aus dem Tirol südlich der Alpen, hat sich hier,
zumindest auf Durchreise, aufgehalten wie später Montaigne. Den
Kurtisanen des Konzils, ihren Beischläfern und den angereisten
italienischen Humanisten. Da ist die Schweiz schon de facto
gemacht und der Thurgau weggebrochen. Später dann schläft die
Stadt Konstanz den langen Schlaf einer vorderösterreichischen
Landstadt, und die Gegend ist intellektuell reduziert und
zerschnetzelt in Herrschaften und Duodeztümer. Seit den
schrittweisen und überfälligen Flurbereinigungen des 19.
Jahrhunderts war sie, wechselnd oder zugleich und ihrem
mittlerweile verschlafen idyllischen Charakter entsprechend,
Arkadien, Rückzugsland, Exil, Aufbruchgegend. Da waren zunächst
die Droste auf der Meersburg, der Bistumsverweser Wessenberg in
Konstanz – es wurde abgewickelt zu jener Zeit – und der
reaktionäre Herr von Lassberg, fürstlich Fürstenbergischer
Emigrant in der Schweiz und Prägermanist de renommée, der den
Thurgau in dem Moment verliess, als der sich 1837 eine
Verfassung gab.
So ging´s hier eigentlich durchgängig zu bis in die sechziger
Jahre des 20. Jahrhunderts. Da waren indes vorher noch die
Bohème am Bodensee im thurgauischen Uttwil und jene, die der
freiherrliche Schriftsteller Emanuel von Bodman in seine Bleibe
im thurgauischen Gottlieben lud, die heute das einzige
Literaturhaus der Region beherbergt, sowie die illustre
Besatzung der psychiatrischen Klinik Binswanger in Kreuzlingen.
Rückzugsgebiet auch für Otto Dix im Faschismus und während des
Zweiten Weltkriegs. Rückzug und Peripherie allemal. Als ich Ende
der sechziger Jahre an den Gestaden des Bodensees eintraf,
wollte ich sogleich wieder von hier fort. Die hohen Wolken über
der ungemein heiteren, der melancholischen Landschaft: alles
zwischen Himmel und Erde schien mir vor allem ungeheuer eng und
kaum genug Luft zum Atmen zu bieten. In Paris und Berlin
entschied sich vielleicht unsere Zukunft. Im Quartier Latin
wurden Barrikaden errichtet, in Berlin wurde Rudi Dutschke
angeschossen, in Boulogne-Billancourt und andernorts gegen das
Regime gestreikt. Das Neue statt des Alten. Durchzug statt
erstickter Luft, Lebenslügen und verlogener politischer Moral.
Foutu und alles für die Katz und Jugendtraum, aus und vorbei.
Und nicht vorbei: Berufsverbot, Emigration, die physisch bereits
vollzogen war. Fünf Kilometer weiter südlich ein neues, altes
Leben unter Mühen.
Und dann kam, wie im Traum, den wir nie zu träumen gewagt
hatten, die Region zu ihrem Recht. Und zu Wort. Traditionen,
Strukturen, Verbindungen waren vorhanden oder ergaben sich. Und
der Geist des Regionalismus als sanftere, der Gegend gemässere
und geläuterte Schwester des Geists von achtundsechzig wehte von
aussen herein – das schreibt sich so leicht, vielleicht wehte er
zu gleichem Teil aus uns selbst – und setzte rasch Samen und
trug Früchte. Es war die Zeit der NATO-Nachrüstung und der
Anti-AKWBewegung. Nur gab´s in der näheren Umgebung weder
Atomkraftwerke noch Abschussrampen oder Truppenübungsplätze. Ich
erinnere mich, wie wir weit oben, schon beinahe in
Schwäbisch-Sibirien einen Truppenstandort für eine
Schriftstelleragitationslesung ausgeguckt hatten und zuletzt in
einem Gasthaus unter Jungsozialisten landeten. Hier im beinah
südlichen Garten, wo das Licht anders leuchtet und die sozialen
Realitäten versickern, wurden immer schon die Ideologien und
Gegengifte ausgeheckt, die Weisen und Verse verfasst.
Kaiseraugst war fern, der Kampf ums Freiburger Dreisameck,
Gösgen noch viel entfernter. In der Überschaubarkeit von
Strukturen, die beinahe immer mit Personen und Personengruppen
deckungsgleich waren, entstand in den siebziger und achtziger
Jahren eine Literatur, die sich hier ihre Wurzeln suchte, für
die ein Martin Walser und andere den Boden bereitet hatten. Ich
denke beispielhaft an die Gedichte von Hans Georg Bulla und
Peter Salomon, die Romane, Erzählungen und „Heimattexte“ von
Hermann Kinder, die Gedichtsammlung „Das Kattenhorner Schweigen“
von Werner Dürrson, die Mundarttexte des verstorbenen Michael
Spohn, der sein oberschwäbisches Idiom in einer nicht tümelnden
Weise benutzte wie kaum ein zweiter, die ersten Bücher des
weiter den Rhein hinunter lebenden Romanciers Markus Werner.
Dazu die ersten Versuche junger Leute, die heute, indes kaum
noch in der Region, zum festen Inventar der politischen und der
Kulturszene zählen, des St. Galler Schriftstellers Christoph
Keller oder des Thurgauer Journalisten und Autors Stefan Keller.
Eine Literatur, die im Kontext entstand von politischem Handeln,
journalistischer Intervention, literarischem Diskurs,
universitären Debatten, informeller und, jawohl, privilegierter
Kommunikation. Dass sich an solchen Diskussionen selbst Personen
aus Zürich beteiligten, zeigt nur die seitherige Fallhöhe. Es
entstanden zwei Literaturzeitschriften, die einander
nachfolgten, eine alemannische Kultur- und Literaturzeitschrift,
eine regionale politische Monatszeitung, zwei Verlage, die in
einem Fall sozusagen aus der Mitte der Schreibenden, im anderen
in ihrer unmittelbaren Nähe geboren wurden. Es gab Debatten,
Streit, Gespräche, Lesungen, die, wie wir meinen, bewegten: die
Köpfe und die Meinungen. Die Grundierung der Existenz von
Menschen, die sowohl in einem umfassenden Sinn politisch wie
literarisch interessiert waren und eines solchen Klimas als
Humus der Existenz und Lebensgrundlage bedürfen. Dies alles ist
seither verweht und verstummt. Das Ende kam schleichend und
unmerklich, kaum könnte man rekonstruieren, wann und in welcher
zeitlichen Abfolge. Ein Verlag machte Bankrott, eine
Zeitungsredaktion hörte auf wie dann später, man nahm es beinahe
nicht einmal mehr zur Kenntnis, ihre Nachfolger aufhörten. Einer
verliess die Gegend, ein anderer zog sich hinter seinen
Schreibtisch, ein dritter aus der Gesellschaft der übrigen
zurück. An die Stelle der verzweigten und durchlässigen Szene
sind längst Grüppchen und Nischen getreten: Zwei tun sich
zusammen und starten ein Unternehmen. Plötzlich sind wir
zurückgeworfen auf das nur noch Eigene, ohne oder beinahe ohne
menschliche und intellektuelle Kommunikation. Der soziale
Organismus, der einmal existiert hat, scheint fortgeweht vom
Föhn. Die Debatten sind verstoben, die handelnden Personen
ebenfalls. Autoren, Journalisten, Studenten, Theaterleute, die
Habitués der Kneipen, die Randexistenzen, Wissenschaftler und
Nachtschwärmer treffen, begegnen sich nicht länger in Wein- und
Bierstuben, laufen sich nur ganz zufällig und vereinzelt noch
vor die Füsse wie überall anderswo. Das Netz ist zerrissen und
bei Versammlungen und Zusammenkünften tönt es, wie einst, pompös
provinziell nach dilettantischem Ritual, auf das sich alle
Provinz im Reflex gerne zurückzieht. Wir sind nicht verschont
geblieben. Die Herbstnebel, die tristen Wintertage erreichen uns
rasch und verscheuchen die Illusion, wir seien anders als die
Fremden, die den See und seine Landschaft sommers nur kurz
befahren, in südlicher Begünstigung gehalten, sozusagen durch
geographische Kondition seelisch unversehrbar (...).