AUFSÄTZE
Matthias Spranger: Der Hansjakob kommt ... und geht.
Vortrag auf der Jahresversammlung von FORUM ALLMENDE in
Haslach, 17. September 2011
Lassen Sie mich zunächst von einem Experiment berichten. Quasi
als Einleitung. Der Hansjakob-Kenner erfährt darin nichts Neues.
Deshalb kann er auch für die Dauer der Einführung gleich
weghören. Aber er soll wissen, dass ich einem Erzählmuster des
Volksschriftstellers folge, indem ich einen Ich-Text referiere
und schonungslos von mir selbst berichte, bzw. von meinem
Gedächtnis, dessen Beschaffenheit, je älter man wird,
bekanntlich eigentümliche Formen annimmt.
Ich habe, als die Aufforderung von Manfred Bosch eintraf, mir
Gedanken zu Hansjakob zu machen, sofort gehorcht, weil ich von
Manfred Boschs Aufforderungen eigentlich immer profitiert hatte,
seit nunmehr 40 Jahren. Er war nicht ganz von ungefähr auf die
Idee gekommen, mich zu beauftragen. Ich hatte vor ca. 35 Jahren
für den damaligen Südwestfunk bzw. das Landesstudio Freiburg des
SWF, das mich als Kulturredakteur angestellt hatte, eine Sendung
geschrieben und produziert: Sie wurde im Rahmen der „Hörzeit“ am
Sonntagnachmittag um 13.00 im 1. Programm ausgestrahlt und
dauerte annähernd zwei Stunden. Das war so eine Art Auftakt für
eine ganze Reihe von Sendungen über Heinrich Hansjakob, die in
den folgenden Jahren produziert wurden.
Wer jetzt meint, dass mich das Thema Hansjakob seit jener Zeit
nicht mehr losgelassen hätte, der irrt. Hansjakob war gekommen,
Hansjakob war gegangen. Mein Kollege Thomas Lehner war da längst
initiativ geworden, hatte die Stafette übernommen. In den
Folgejahren hatten wir mehrere Autoren gewinnen können,
Hansjakob-Erzählungen als Hörspielvorlagen zu adaptieren,
darunter waren u. a. Wolfgang Duffner, Thomas Strittmatter,
Manfred Bosch. Nicht gewinnen konnten wir Martin Walser, dem ich
alle seinerzeit verfügbaren Hansjakob-Geschichten aus dem Besitz
des ehemaligen Freiburger Theater-Intendanten Manfred Beilharz,
der auch scharf darauf war, von Walser ein Hansjakob-Stück für
seine Bühne zu bekommen, mitbrachte und Hoffnung schöpfte und
Hoffnung begrub.
Und nun beginnen einige Sätze einfach mit: Ich erinnere mich…
Ich erinnere mich, wie unser Aufnahmeteam nächtens über ein Grab
gestapft ist, in dem eine der unglücklich Liebenden von
Hansjakobs Frauenfiguren begraben liegt und wir dort am Grab
fürs Hörspiel eine herzzerreißende Szene aufgenommen haben. Weil
– wie mein Kollege seinerzeit meinte – an authentischen Orten,
zumindest außerhalb des Studios, alles authentischer würde. Den
Mitwirkenden – vorwiegend Laien – gab es zumindest dieses
Gefühl. Ich erinnere mich, wie ich in einem Hansjakob-Hörspiel
einen Priester geben durfte, der dem sterbenden Bauern die
letzte Beichte abnahm. Ich machte meine Sache offensichtlich so
glaubwürdig – auf lateinisch natürlich – dass die Frauen, die um
das Hörspielsterbebett versammelt waren, rechtschaffene
Kinzigtälerinnen, allesamt auf die Knie fielen, als ich die
Absolution erteilte. Wie gesagt, wir glaubten damals, dass
derlei akustisch nicht unbedingt zu verifizierende
Spontanreaktion die Qualität der Hörspiele enorm steigern würde…
Ich erinnere mich, wie ich in dem muffigen Wohnzimmer eines
Hansjakob-Funktionärs in Freiburg saß und mir von höchster
Stelle gewissermaßen sagen ließ, was und wie man von Hansjakob
zu denken habe; ich erinnere mich, wie ich das dunkle Gerücht
erwähnte, dass Hansjakob Kinder gezeugt haben solle, ein, zwei,
drei, oder gar viele…und der Hansjakob-Funktionär mich deutlich
an mein journalistisches Ethos ermahnte, keine Gerüchte in die
Welt zu setzen. Ich erinnere mich, wie ich in der Freiburger
Uni-Bibliothek die Doktorarbeit eines Holländers, die dort unter
Rara abgelegt war, also nicht ausgeliehen werden durfte,
eingesehen habe und ein paar Kapitel auch – damals –
abphotographieren ließ. Dieser Doktorarbeit ging der Ruf voraus,
sie habe sehr kritisch über Hansjakob geurteilt. Ich erinnere
mich an Frau Maria Schaettgen, die die Hansjakob-Gedenkstätte in
Haslach seinerzeit betreute und mir strenge Auskünfte erteilte.
Beeindruckt haben mich vor allem ihre Ausführungen über
Hansjakobs Nervenschwäche, wie man Psychosen euphemistisch
beschreiben kann. In diesem Zusammenhang fragte ich auch, was es
mit dem Gerücht mehrfacher Vaterschaft auf sich habe. Sie bat
mich, das Mikrofon abzustellen und eröffnete mir, nein, sie
deutete an und wähnte sich als Geheimnisträgerin, die etwas
preisgab, auf dem die Todessstrafe stand. Anschließend fuhr ich
nach Hofstetten in das Gasthaus zu den „Drei Schneeballen“ und
fragte an einem Stammtisch nach Pfarrer Hansjakob. Und einer
erzählte mir von einem Sohn Hansjakobs, der aus Amerika
angereist sei, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Das hatte
ich auf Tonband aufgenommen und später auch gesendet. Als ich
Monate, vielleicht auch Jahre, später auf einem Volksfest Frau
Schaettgen in Kinzigtäler Tracht traf, strafte sie mich mit
einem Blick, der hätte töten können. Ich erinnere mich an die
Grabkapelle, von der ich wusste, dass Hansjakob sie sich zu
Lebzeiten hat errichten lassen und öfter vor ihr saß,
gedankenschwer und wehmütig der untergehenden Sonne zugewandt.
In diesem Zusammenhang sind Gedanken fixiert, die mich
seinerzeit aufhorchen ließen. Denkbar untypische Gedanken für
einen katholischen Priester, so schien es mir, hoffnungsarm,
schwermütig, pessimistisch, kein Auferstehungsjubel, wie ihn die
katholische Liturgie heute bei Beerdigungen bereitstellt. Bei
einem anderen verschatteten Katholiken, dem Schriftsteller
Reinhold Schneider, habe ich dann allerdings wieder eine solche
Seelenfrequenz entdeckt, freilich auf einem anderen Niveau.
Daran also, und an nicht viel mehr, erinnerte ich mich, als
Hansjakob auf Wunsch von FORUM ALLMENDE wieder erscheinen
durfte. Hansjakob war verschwunden. Nach erfolgter Sendung war
Hansjakob langsam wieder verschwunden. Zu Gunsten von
Wichtigerem. Immerhin war meine Beschäftigung auffällig gewesen.
Von Bekannten erhielt ich damals ein Gipsrelief des Pfarrers
geschenkt, das Standardmotiv mit Hut. Ich habe es aufgehängt, es
ist mehrfach zu Boden gefallen, es wurde mehrfach wieder
zusammengeklebt. Irgendwann ist es verloren gegangen. Ja von
wegen. Als ich am Text dieses Vortrags arbeitete, stand eines
Tages meine Frau neben mir, die Hände auf dem Rücken:
Überraschung! Das Gipsrelief war doch nicht entsorgt worden.
Bitte sehr. Der Hansjakob kommt und geht jedenfalls nicht, wie
ICH immer will. Und noch ein Hansjakob-Unterpfand habe ich in
der Familie. In jenen Jahren, als Hansjakob kam, der alte
Schlawiner, wurde unser zweiter Sohn geboren, wir nannten ihn
nicht Hans Jakob, auch nicht Heinrich, gleichwohl Jakob
Giovanni.
So – und jetzt ist Schluss mit den Erinnerungsspäßchen, denn
inzwischen ist ein Paket von Manfred Bosch eingetroffen. Inhalt:
eine Hansjakob-Festschrift aus dem Jahr 1987 – der 150.
Geburtstag – ferner -zig Exemplare des sogenannten
Hansjakob-Briefs im Zeitraum von November 1992 bis April 2011.
Das sind die Vereinsmitteilungen der
Heinrich-Hansjakob-Gesellschaft. Die lagen seinerzeit, also
zwischen 1970 und 1990, auch auf dem Schreibtisch im Freiburger
Landesstudio. Der Hansjakob durfte, sollte, musste also wieder
kommen. Es begann ein bisweilen ein fürs Gedächtnis
beschämender Prozess, das Wieder-Lesen. Ausgetrocknetes
Gedächtnisgelände wurde begossen. Ob noch so viel sprießen
könnte, wie vor 35 Jahren? Wohl kaum. – Schnitt.
Ich mache jetzt etwas, was Hansjakob in seinen Erzählungen oft
macht, sogenannte Schlenkerer, d. h. Abschweifungen. Ich mache
sie freilich umgekehrt wie Hansjakob, nicht ins subjektive
Räsonnement, sondern ins Objektive. Ich referiere ein paar
lexikalische Daten, damit Sie sich nicht nur an meinen Daten
orientieren müssen. Ich zitiere aus Walter Killys
Literaturlexikon:
H. Sohn eines Bäckers, Stadt- und Landwirts, studierte Theologie
und Philologie in Freiburg, schloss 1862, dem Jahr seiner
Priesterweihe, mit dem philolog. Staatsexamen in Karlsruhe ab u.
promovierte 1863 in Tübingen zum Dr. phil. (Bemerkung: Die
Dissertation war an der Freiburger Uni nicht angenommen worden,
in Tübingen war man erstaunlicherweise großzügiger, vielleicht
ein Hinweis darauf, dass Hansjakob, soweit ich das feststellen
konnte, später in seinen Schriften auf Schwaben und Schwäbisches
stets gut zu sprechen war. Prüfungsnote war allerdings „rite“,
d. h. schlechter ging’s nicht mehr). 1865 zum Vorstand der
Bürgerschule Waldshut gewählt, wurde er wegen seines Engagements
für die Kirche im badischen Kulturkampf 1868 durch den liberalen
Minister Jolly zum niedrigsten Lehrer seiner Schule degradiert,
schied aus dem Staatsdienst u. übernahm 1869 die Pfarrei in
Hagnau am Bodensee. Hier war er auch kulturell (u. a.
Brauchtumspflege u. volkskundl. Forschungen) u. politisch aktiv
(zeitweise inhaftiert); inhaftiert, genauer: 1870 war er einmal
vier Wochen inhaftiert, und zwar in Rastatt, das Gefängnis war
in einem Flügel des Schlosses untergebracht; ein andermal, 1873,
sechs Wochen im Gefängnis zu Radolfzell. Weiter im Text: 1871-
1878 war er Abgeordneter des Zentrums im badischen Landtag (ich
muss den Lexikonartikel korrigieren: er war Abgeordneter der
Katholischen Volkspartei, einer Vorläuferin des Zentrums, in der
Zweiten Kammer des badischen Landtags), er scheiterte 1877
jedoch als Reichstagskandidat (dann allerdings für das Zentrum.
Ich füge hinzu, dass er sich mit seiner Fraktion überwarf und
bis zum Ende der Legislaturperiode 1881 als sogenannter ‚Wilder‘
Abgeordnetenstatus hatte). 1884 wurde er Stadtpfarrer in
Freiburg (ich ergänze: Pfarrei St. Martin, gleich beim Rathaus).
Erst als 51 jähriger begann H. Erzählungen in der Tradition der
oberdt. Dorfgeschichte zu publizieren; sie weisen keine straffe
Handlungsführung auf, sind mit volkskundl. Beobachtungen
angereichert u. auf die Schilderung bäuerlich handwerkl.
Charaktertypen abgestellt, die H. noch dokumentieren wollte,
bevor „das Süßwasser der Kultur“ in alle Volksschichten
eindringe u. „den Originalmenschen den Tod bereite“. H. schrieb
aus konservativer Perspektive, wobei er seine Ablehnung alles
„Kulturellen“, d. h. Modischen, Bürokratischen, Preußischen,
Bildungsemanzipatorischen mit „galliger Feder“ äußerte.
Poetische Erfindung lag ihm fern; Auerbachs Dorfgeschichten
bezeichnete er als „verstunka und verloga“. H.s wegen ihrer
volkstüml. Originalität vielgelesene Erzählungen, für die er
sich auf das Prinzip der Ausschweifung in bäuerlicher
Erzählweise berief, waren eher Skizzen; novellistisch
gesteigerte Form erreichte „Der Vogt auf Mühlstein“.
Kulturgeschichtl. wertvoll sind H.s Darstellungen von Dorfleben
u. -historie aus der Erzählperspektive von Gegenständen und
Tieren („Meine Madonna“, eine „Familienchronik“ u. „Aus dem
Leben eines Vielgeprüften“, „Geschichte eines Karrengauls“). H.s
Nachlass befindet sich in der Landesbibliothek Karlsruhe u. im
Hansjakob-Museum im Freihof in Haslach.
Soweit also der kurze Eintrag in Killys Literaturlexikon. Die
wenigen Daten, die hier angeführt wurden, füllen allein schon
einen ganzen Korb von Themen. Wäre ich ein Hansjakob-Kenner,
müsste ich jetzt z. B. Auskunft geben können über den badischen
Kulturkampf und die Rolle einer katholischen Kirche, die sich in
heftiger Opposition zur liberalen Regierung im protestantisch
geführten Großherzogtum befand. Jener Regierung also, die ihre
Beschlüsse – vor allem Schul- und Ausbildungsgesetze, die wir
mal pauschal als fortschrittlich in Richtung auf ein
pluralistisches, aufgeklärtes Gemeinwesen bezeichnen wollen –
offensichtlich sehr autoritär und gar nicht partizipatorisch
durchzusetzen versuchte, Motto: Wir wissen schon, was gut für
Euch ist. Die Opposition gegen eine solche Regierung, der sich
Hansjakob verschrieben hatte, konnte sich, von daher gesehen,
als demokratisch bezeichnen, wobei man sich teilweise der
1848er-Gedanken bediente, aber eben nur teilweise, denn mit
katholischer Tradition war da nicht so viel zu vereinbaren.
Andererseits vertrug sich seine Opposition aber auch mit einem
kühnen Schwenk für die Ziele der Regierung in den späten 70er
Jahren, die dazu führte, dass nunmehr das katholische Zentrum
sich auf Hansjakob und umgekehrt Hansjakob sich aufs Zentrum
einschoss, mehr noch, dass Hansjakob in seiner Zeit als
Stadtpfarrer von St. Martin die veritable Funktion eines
informellen Mitarbeiters der Landesregierung ausübte und als IM
sozusagen regelmäßig Interna aus der Diözese – vor allem
Personalia – nach Karlsruhe an die Adresse des Staatsministers
Nökk berichtete.
Lassen Sie mich aus einer späten Schrift Hansjakobs zitieren,
aus den 1905 erschienen Erinnerungen an eine Schweizreise:
Alpenrosen mit Dornen. Die bezieht sich nicht auf die eben
angesprochenen Sachverhalte. Er kokettiert da nur eben mit
seiner politischen Einstellung, als er auf Jeremias Gotthelf zu
sprechen kommt: Manche deutsche Kritiker haben mich mit Jeremias
Gotthelf verglichen, mir aber damit viel zu viel Ehre angetan.
Einmal hat Bitzius (so hieß Gotthelf mit bürgerlichem
Namen) viel mehr Gestaltungskraft und Kompositionstalent als
unsereiner. Dann war er politisch konservativ (sagt Pfarrer
Hansjakob!!), nachdem er die Ziele und Früchte des Radikalismus
seiner Zeit kennen gelernt hatte, und ich bin ein
unverbesserlicher Demokrat. (Immerhin, er bezeichnet sich nicht
als ‚lupenrein‘). Dieser Unterschied beweist auch, dass der
protestantische Pfarrer von Lützelflüh (gemeint ist Jeremias
Gotthelf) gescheiter war als sein katholischer Amtsbruder aus
dem Schwarzwald, der zwar auch lichte Augenblicke hat und dann
einsieht, dass in der Demokratie nicht alles Heil ist, weil die
Menschen das Ideal der Volksfreiheit eben nirgends voll und ganz
erreichen. Die Menschen streiten und hadern, unterdrücken und
werden unterdrückt überall auf Erden, sei es Monarchie oder
Demokratie. Die letztere hat aber nicht die Legionen seliger
Knechte wie die erstere und ist mir allein um dessentwillen
lieber, denn nichts ist mir mehr verhasst auf Erden als der
Knechtssinn.
Soweit das Zitat. Man spürt vielleicht schon, dass dem Denken
Hansjakobs so leicht gar nicht beizukommen ist. Nicht weil es zu
kompliziert wäre, im Gegenteil, es hat bisweilen einfachstes
Stammtisch-Niveau – nein, weil es so gar nicht auf einen Punkt
zu bringen ist, weil es – sit venia verbo – so unsauber ist. –
Abermals Schnitt.
Von Hansjakob hab ich das Schlenkern gelernt. Zurück zu meinen
wieder aufgenommenen Recherchen. Neben einigem Lesestoff, mit
dem ich von Manfred Bosch beliefert worden war oder den ich mir
ausgeliehen hatte, fand ich in der hintersten Ecke eines
Schrankes auch zwei ziemlich verstaubte Tonkassetten, auf denen
just jene eingangs erwähnte Auftaktsendung aus dem Freiburger
Landesstudio aufgezeichnet war. Der Titel der Sendung war: Der
Hansjakob kommt, Auskunft über den Versuch, einen badischen
Heimatschriftsteller wieder zu entdecken. Der Titel
paraphrasierte zwei Hansjakob-Titel: einmal Der Sozialdemokrat
kommt. Ein Warnruf an unser katholisches Landvolk, 1890
erschienen. Und der andere: Der Kapuziner kommt! Ein
Schreckensruf im Lande Baden, erschienen 1902. Ich bekam heraus,
dass die Sendung am 18. November 1977 ausgestrahlt wurde. Ich
habe aus der Lektüre der Hansjakob-Briefe erfahren, dass zwei
Kronzeugen der damaligen Sendung längst verstorben sind,
hochbetagt: Franz Nadler, der Geschäftsführer, und Maria
Schaettgen, die Hüterin des Freihofs. Ich habe zu Hause noch ein
Abspielgerät für Tonkassetten gefunden und war zunächst
erstaunt, wie gut die Tonqualität war. Da war also der Hansjakob
noch einmal gekommen – aus staubigen Welten sozusagen – und hat
die Leerstellen im Gedächtnis machtvoll besetzt. Und dann wollte
ich es ein zweites Mal versuchen, um mir die Ausschnitte zu
markieren, und nichts außer einem von Wortfetzen unterbrochenem
bösartigen Zischen war darauf zu hören – der Hansjakob war unter
Hinterlassung einer zerstörten Tonspur wieder gegangen. Nun,
mein ehemaliger Sender hat freilich im „Süßwasser der Kultur“
gebadet, will sagen: er hat sich technisch digital hochgerüstet
und vermag mit überschaubarem Aufwand eine CD-Kopie
herzustellen, vorausgesetzt, das Urband war nicht gelöscht
worden. Und dem war so. Und deshalb können wir jetzt einen
Ausschnitt hören. Stören Sie sich nicht an den
Musikeinspielungen, die gehörten schon damals zum Profil des 1.
Programms, das musste also sein.
Einspielung der Sendung über Hansjakob
aus dem Jahr 1977
Tondokument abspielen
Lang ist’s her. Dass man eine Sendung über Hansjakob rein formal heute etwas anders aufziehen würde, ist klar. Es ist ja auch nur ein Ausschnitt gewesen. Meine neuerliche Beschäftigung mit Hansjakob hat aber eines ganz klar gemacht: Die interessanten Untersuchungen zu Person und Werk sind erst nach dieser Sendung entstanden. Ich meine, dass da eine neue Generation ans Werk gegangen war, und ich meine, dass meine Gewährsleute von damals, Maria Schaettgen und Franz Nadler, aber auch Helmut Bender, der langjährige Präsident der Hansjakob-Gesellschaft, viel Kummer noch in ihren letzten Lebensjahren schultern mussten. An erster Stelle jener Umgräber und Neubepflanzer der Hansjakob’schen Ländereien nenne ich Manfred Hildenbrand, den heutigen Leiter des Hansjakob-Archivs in Haslach und der Gedenkstätte. Er hat Stück für Stück – in verträglichen Dosen sozusagen – in den Hansjakob-Briefen, aber auch in der „Badischen Heimat“, in der „Allmende“ und anderen Organen, schließlich in einer Festschrift zum 150. Geburtstag und am ausführlichsten in einer nobel gestalteten Monographie unter dem Titel „Heinrich Hansjakob – Rebell im Priesterrock“, das veröffentlicht, was die Quellen, auch die neu erschlossenen, bislang noch versiegelten Nachlässe an Interpretation hergaben. Vor allem aber hat man den Eindruck, dass jetzt nicht mehr unter den Tisch gekehrt wurde. Das betraf auch Arbeiten von Johannes Werner, Wolfgang Wipprecht oder Thomas Lehner, meines ehemaligen Kollegen. Da erfuhr man, dass der Pfarrherr von St. Martin sich unter Mithilfe seines Freundes, des Oberbürgermeisters Winterer, eine komfortable und fein ausgestattete Dichterklause in der Kartaus, dem Freiburger Altenheim, einrichten konnte. Man wusste es, aber erwähnte es bislang nicht, dass Hansjakob natürlich kein armer Mann war, obwohl er sich als solchen oft bezeichnete, jammernd und selbstmitleidig erregt, sondern für seine rund 80 Bücher, deren Gesamtauflage schon zu Lebzeiten über eine Million betrug, enorme Tantiemen einstrich. Man erfuhr, dass die eigentliche Seelsorge von seinen vier Kaplänen verrichtet wurde, die er bisweilen übel beschimpfte und die sich beim Ordinariat auch beschwerten, während der Dichter draußen in der Kartaus im Dreisamtal, seine schriftstellerische Seele bewirtschaftete. Die Kartaus freilich – und das war der kirchenrechtliche Joker – gehörte zum Sprengel von St. Martin. Deshalb konnte man ihm auch nicht vorwerfen, er verlasse seinen Arbeitsplatz. Man erfuhr, dass Hansjakob mächtigen Ärger mit dem Bischöflichen Ordinariat hatte, aber nicht nur wegen ordnungsdienstlicher Sonderwünsche, sondern ganz existenziell wegen seiner Haltung zum Antimodernisteneid, der bekanntlich seit Pius X. 1910 von jedem Geistlichen abverlangt wurde zwecks Reinhaltung der Lehre. Man erfuhr, dass er sich nicht zum Seelsorger berufen sah, seine Umgebung hat dies schon zu Schul-und Studienzeiten bemerkt, was immer das heißen mag. Man erfuhr mehrere Details seiner psychischen Disposition, seinen ‚Nerventeufeleien‘, wie er es ausdrückte, dass er starke Psychopharmaka nehmen musste, und das waren damals meist Opiate und Morphine. Von den Alkoholika mal ganz abgesehen. Aus einem Brief an den Direktor der Nervenheilanstalt Illenau aus dem Jahr 1906: Ich habe mich bisher gesträubt, mit der größeren Morphium-Kur zu beginnen. Nun habe ich aber jeden 2. und 3. Tag am Abend einen Anfall an Schwermut, Angstgefühl und Zwangsvorstellungen, der wie ein Fieber mich überfällt und mich bis zu Selbstmordgedanken plagt. Ich will nun energisch mit dem Morphium vorgehen, bedarf aber einer größeren Dosis, da das Fläschchen, welches ich erhielt, in wenigen Tagen verbraucht sein wird. Dann berichtet er von angenehmen Erfahrungen mit Opium als Heilmittel gegen Magenschmerzen und Ohrensausen. Und er fragt den Klinikdirektor: Wäre es am Ende besser, wenn ich statt Morphium Opium nehmen würde? Soll ich bei einem solchen Anfall nicht einmal eine Einspritzung versuchen? Aber darüber schrieb er nicht nur in privaten Briefen. Auch in seinen Tagebuchblättern „Allerlei Leute und allerlei Gedanken“ erzählt er 1912 freimütig von einem neuen Opiumpräparat namens Pantophon, das seine geschundenen Nerven ganz andere Töne spielen ließ.
Die Frage ist, erwähnt man das, wenn man über Hansjakob spricht. Geradezu fahrlässig wäre es aber, wenn man die antisemitischen Sottisen in seinen Schriften verschwiege. Da war übrigens nichts unter archivalischem Verschluss. Das lag alles offen da. Die Frage ist, wie bewertet man diesen Antisemitismus, der natürlich keine Hansjakobsche Spezialität ist, sondern sich artig in eine Reihe wackerer katholischer Judenhasser im 19. Jahrhundert einreiht: Alban Stolz, gebürtig aus der Zwetschgenstadt Bühl, auch Volksschriftsteller, der Österreicher Sebastian Brunner, päpstlicher Hausprälat, apostolischer Pronotar und vielgeleser Satiriker, Josef Scheicher, Vorsitzender der Christlich-sozialen Partei Österreichs, nicht zu vergessen der spätere Bischof von Rottenburg Paul Wilhelm von Keppler, den ich zitiere, weil er aus meiner Heimatstadt Schwäbisch Gmünd stammt. Keppler war der Meinung: Die Juden sitzen den Christenvölkern wie ein Pfahl im Fleisch. Sie saugen ihnen das Blut aus… Sie vergiften mit Rohrzeptern von giftgetränkten Federn die öffentlichen Brunnen der Bildung und Moral durch Einwerfen ekliger, eitriger Stoffe. Das Zitat ist insofern typisch, als es die Motive komprimiert, die auch für Hansjakob gelten: Diese Art von Antisemitismus ist antikapitalistisch und antikulturell begründet. Hansjakob in seinem Hofstetter Tagebuch „Im Paradies“ über die Juden: Als Rasse, die uns Abendländern im Erwerb überlegen und in den Mitteln hiezu nicht verlegen ist, sind sie vielfach eine soziale Gefahr und verdienen den Antisemitismus. Und in der Richtung muss jeder, der klar sieht und die Schädigungen des allermeist in jüdischen Händen befindlichen Großkapitals erkennt, Antisemit sein. Börse und Großindustrie sind das Unglück unserer Zeit, beide aber stehen meist in Judenhänden. Aber – und das ist typisch für Hansjakob – es gibt sehr wohl warme, anerkennende Worte für arme Juden, vor allem wenn sie gläubig sind. Mehrmals betont er, dass er den gewöhnlichen Handelsjuden auf dem Land schätze. Auch die schon erwähnte Distanz zu Auerbach und seinen Dorfgeschichten hatte keinen antisemitischen Hintergrund. Es gibt auch Sätze wie diese: Es ist ein wunderbares Volk, dieses Volk der Juden. Seit zwanzig Jahrhunderten lebt es unter allen Völkern der Erde, ein Volk für sich und das einzige von den alten Völkern, das sich rein erhalten hat trotz dieser Wanderung durch die Welt und die Jahrhunderte… es trägt die alttestamentlichen Verheißungen durch die Jahrtausende hin und bezeugt, dass sie wahr und echt sind…
Wenn Sie jetzt – befremdet von diesem Widerspruch – aufstöhnen, muss ich sagen: stöhnen Sie weiter.
Was z. B. unter der Zuschreibung „Pazifist“ unseren Kinzigtäler veredelt, ist nicht minder widersprüchlich. Kräftige Worte gegen Militarismus und Krieg sind Legion: „eine Ausgeburt der Hölle“, „ein Höllenspiel“, „die größte Geissel der Menschheit“ nennt Hansjakob den Krieg. Die Annexion von Elsass-Lothringen durch das Deutsche Reich nach 1871 sah er als einen Fehler an, weil sie gegen den Willen der Bevölkerung geschehen sei. In der Erzählung „Aus dem Leben eines Vielgeliebten“ heißt es: Könige vergießen mit Wonne das Blut der Proletarier. Als der erste Weltkrieg ausbrach, sah er sich bestätigt. In einem Brief schrieb er: Den Krieg betreffend, teile ich ganz den Standpunkt der Sozialdemokraten: Die ewige Rüsterei musste so enden. In seinem letzten Werk, 1915 geschrieben und im Todesjahr 1916 erschienen, „Zwiegespräche über den Weltkrieg gehalten mit Fischen auf dem Meeresgrund“, lesen wir aber die Sätze: Frankreich wurde geködert (geködert von England) zum Kastanienholen durch seine Rachegelüste, die es seit 1871 trägt, wo wir ihm nicht den Gefallen taten, von ihm besiegt zu werden, und wo wir unser altes Eigentum wieder holten, Elsass-Lothringen, das uns die Welschen zwei Jahrhunderte zuvor mit Gewalt und Verrat genommen hatten. Und dann vergleicht er, weil er ja mit Fischen spricht, den deutschen Soldaten mit dem Delphin: Der Delphin unter den Menschen ist der Deutsche. Er ist gehorsam und dienstgefällig gegen seine Vorgesetzten, er gibt Gott, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Er ist gesellig, liebt Gesang und Musik und vergießt Tränen im Überfluss, weil ihn die meisten Leiden heimsuchen von allen Geschöpfen. Wird er aber gereizt, so verfällt er dem furor teutonicus …, und dann wirft er alles vor sich nieder, das ihm feindlich entgegensteht. So macht er es in diesem Krieg… alle wirft der deutsche Soldat zurück, damit sie nicht in sein Vaterland eindringen und morden, rauben, sengen und brennen können. Und er erwirbt sich durch diesen Riesen- und Heldenkampf Ruhm, der bis zu den Sternen dringt … Und weiter heißt es: Also wir Deutsche sollten ausgehungert werden durch Abschneiden jeglicher Zufuhr. Kein Wunder, wenn Deutschland seine eisernen Torpedoboote mit den stählernen Sprenggeschossen in die See schickt, so weit es geht, und alle Schiffe, die nach England fahren, um den Engländern Munition oder Lebensmittel und sonstige Bannwaren zu bringen, mit wohlgezielten Schüssen in die Tiefe versenkt.
Das ist – mit Verlaub – übles Landsergewäsch. Selbst wenn man den Deutschen, auch den friedliebenden Deutschen, zu jener Zeit eine Angst vor Einkreisung durch die Entente nicht absprechen darf: mit Pazifismus haben diese Sätze nichts zu tun. Zurück zu den Fischen: So kommt Ihr Fische, schreibt Hansjakob, zu eurem Gefrierfleisch, zu Schinken und Konserven aller Art aus den geborstenen Schiffen, die den deutschen Unterseebooten zum Opfer fallen.
Wenn ich Ihnen im Folgenden nur einen Bruchteil der Sätze präsentieren würde, in denen sich Hansjakob zu Frauen äußert, müssten wir das Abendessen verschieben. Das Muster ist klar, es wurde ja schon angedeutet: Wenn etwas nur im geringsten nach Emanzipation, nach Bildung, nach Selbstverwirklichung, nach Frauenwahlrecht riecht – und auf seinen vielfältigen Reisen durch Europa begegnet er diesen Phänomenen ja immer wieder – macht er es nieder. Auffällig genau beschreibt er oft die Kleidermoden, die er verabscheut – in der Schweiz z. B., wo ihm junge Landfrauen begegnen, die Enganliegendes tragen. Genau genommen lässt er eigentlich nichts anderes gelten als die Volkstracht. Und dann eben Sätze wie: Ja, es ist schon viel zu sehr emanzipiert, und es wäre an der Zeit, dasselbe wieder aus Straßen und Gassen, aus Gymnasien und Universitäten, von den Zweirädern, vom Klavierspielen und vom Malen weg – in die Kinderstuben, an die Waschzüber, in die Küchen, zu den Stricknadeln und Spinnrädern zurückzutreiben. Hansjakob, der Demokrat, sagt: Ich würde Weiber, die wie in England immer Skandal machen wegen des Frauenstimmrechts, kurzweg auf Jahr und Tag in ein Arbeitshaus sperren und die an Spinnräder setzen.
Kotzbrocken, könnte man sagen, und: „wie die Zeit vergeht…“ Interessant ist heute eigentlich vor allem, dass Hansjakobs Leserschaft in der Mehrzahl aus Frauen bestand: aus ganz Europa, aus der deutschstämmigen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Das weiß man aus der Resonanz der Leserbriefe, die Hansjakob zum Teil – genüsslich geschmeichelt – wieder zitiert. Und da waren Gedichte darunter und Reflexionen, die zum Teil ein beachtliches Bildungsniveau dokumentierten, auch neckische Reaktionen, wie z. B. die Lieferung von Radiergummis, mit denen der Schriftsteller doch bitteschön seine bösen Bemerkungen über die „Wiibervölker“ auslöschen solle. Ich glaube, es war ein stilles Einvernehmen Hansjakobs mit seiner weiblichen Leserschaft. Sie streichelte dem ruppigen Grobschmied über den Kopf: Ist ja gut, Alter. Und er lieferte neben seinen reaktionären Polemiken eben auch wunderbar einfühlsame Geschichten über Frauen, die an ihrer trachtengesättigten und bäuerlich festgefügten Ordnung zu Grunde gegangen waren, weil sie eben ihre Liebe nicht leben durften. Ich glaube, dass die Frauen am besten wussten, woran sie mit Hansjakob waren.
Schließlich das Thema, das darauf folgen muss, das Thema, das schon in der Sendung zur Sprache kam: Hansjakob und die Folgen. Ich meine das, was er neben seinen 74 Büchern erzeugt hat. Kinder, klar. Wie viele? Zwei, drei oder gar vier? Ich muss gestehen, dass mich das heute gar nicht mehr so interessiert. Obwohl das die bislang spektakulärste Trouvaille der Hansjakob-Quellen ist, weil erst seit 1980 die Briefe zugänglich sind, die Hansjakobs Privatsekretär Anton Trunz 1950 mit einer Sperrfrist von 30 Jahren dem Erzbischöflichen Ordinariat vermacht hat. Als Privatsekretär wusste Trunz Bescheid: Seit Jahr und Tag muss Trunz alle Privatbriefe an mich öffnen, weil ich immer fürchte, es könnte etwas darin stehen, was mir Zwangsvorstellungen macht, lesen wir in Brief aus dem Jahr 1909. Seit 1980 werden dann eben nicht nur mehr Legenden gesponnen, wenn von Hansjakobs Zölibatsverstößen die Rede ist. Aber es hat mich, glaube ich, deshalb nicht so sehr interessiert, weil es das Mindeste war, was von einem so überbordenden Ego erwartet werden konnte, dass es nämlich die Fesseln eines Zwangszölibats sprengt, Kirchentreue hin oder her. Es ist für mich also das am wenigsten Überraschende. Interessant ist eher, dass eine dieser Frauen, Hermine geb. Franz, eine entfernte Cousine Hansjakobs, geschiedene Wörner, verheiratete Keller und Mutter zweier Hansjakob-Söhne, schon ganz wacker das Händchen aufgehalten hat: da wurde Druck gemacht, m. a. W.: da wurde kräftig abgeräumt, da ist viel Geld geflossen. Man kann auch sagen, es wurde erpresst. Nun ja, es war ja auch etwas da. Dass dies die „Nerventeufel“ des Stadtpfarrers von St. Martin nicht unbedingt vertrieb, versteht sich von selbst. Wenn ich jetzt aber im „Südkurier“ vom 18. August dieses Jahres lese, dass in Hagnau ein 60 jähriger Bio-Winzer behauptet, er sei der Urenkel vom Pfarrer Hansjakob und dies mehr oder minder glaubwürdig – modo narrandi natürlich, ohne schriftliche Belege – bezeugt und vor allem stolz darauf ist; wenn ich im gleichen Artikel dann noch von einem heute 77 jährigen Enkel aus einer anderen Beziehung Hansjakobs lese, ganz abgesehen von den relativ gut bezeugten Söhnen der Hermine Franz und dem verdienstvollen Dr. Zimmermann, den Papa Hansjakob in der Hagnauer Pfarrkirche auch incognito getauft haben soll, dann will mir fast scheinen, ein Vorfahr des Dominique Strauss-Kahn habe seinerzeit die Freiburger Erzdiözese heimgesucht. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, dass es sich in allen Fällen um einvernehmlichen Sex gehandelt hat.
Meine Damen und Herren, es wird Zeit, dass ich zum Schluss komme. Sie könnten aus dem, was ich Ihnen als Belege meiner neuerlichen Beschäftigung mit Hansjakob vorgelegt habe, den Schluss ziehen, dass ich Sie von der Lektüre seiner Schriften eigentlich abhalten will. Dieser Eindruck wäre fatal und ich kann nur stur und steif behaupten: das Gegenteil ist der Fall. Ich meine lediglich, dass der auf den Holzweg gerät, der Hansjakob für irgendetwas in Anspruch nehmen will, sei es die Jugend, sei es das Alter, seien es die Bauern, seien es die Konservativen oder die Fortschrittlichen, die Angepassten oder die Rebellen oder die katholische Literatur insgesamt. Denn wenn er es tut, gibt es garantiert Stellen, mit denen genau das Gegenteil seiner Intention bewiesen werden kann. Ja, bei einem, bei dem immer auch das Gegenteil wahr ist, kommt man in Nöte. Und von einem, von dem gesagt wurde, dass man von seinen Predigten nicht fromm werde, aber gescheit, sage ich: weder/noch. Das, was da gescheit tut, ist oft nur ein Anlauf, der dann im Sumpf einer Stammtischplattitude endet. Auch theologisch gibt es Billigangebote. Davon abgesehen, gute Schriftsteller deutscher Sprache finde ich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genügend, und dass unser gutes Baden auf diesem Gebiet mal nicht nur den Premiumsektor bedient – damit wird man leben können. Auch brauch ich keine moralischen Vorbilder mehr und unter Schriftstellern schon dreimal keine. Warum also Hansjakob lesen?
Weil da einer um sein Leben schreibt. Völlig gleich, welches Buch sie nehmen, am offenkundigsten liegt die wunde Seele in seinen Ich-Büchern. Also den Tagebuchblättern, den Reisebeschreibungen. Bei den Geschichten fällt es aber auch nicht schwer, den Erzählstoff bzw. das poetisch Komponierte oder das volkskundlich Referierte abzuräumen und den tieftraurigen Ruhelosen zu entdecken. Das Schreiben hat ihm, dem Hochempfindlichen, dem seelisch Belasteten, dem mit dem Gedanken an Selbstmord Vertrauten, vermutlich mehr geholfen als seine Morphine und Opiate. Das Schreiben hat ihm die dunkle Leere seiner Seele aufgefüllt mit den Materialien seiner Empathie, jenen oft nur kurz angedeuteten Biographien der allerärmsten, bemeitleidenswertesten Zeitgenossen. Die hat er ausgefragt, mit ein bisschen Geld oder einem warmen Essen oder einer Kutschfahrt entlohnt, hat sie sicher nicht näher an sich herangelassen, weil ihn das zu sehr genervt hätte; und hat sich seine Notizen gemacht. Wen er an sich herangelassen hat, war die Landschaft. Je vertrauter sie ihm war, desto näher. Ob das nun am Silvestertag 1912 war, wo er kurz vor Mitternacht sein Fenster in der Kartaus öffnet und mit seiner Platane spricht, während von Ferne die Dreisam rauscht und ihm ein Sternenhimmel das Universum in die Stube liefert – nachzulesen in „Allerlei Leute und allerlei Gedanken“, erschienen 1913 – ; oder in der Schrift „Mein Grab“, 1905: da beschreibt er auf einer seiner regelmäßigen Fahrten von Freiburg nach Hofstetten, wo er den Fortgang der Bauarbeiten für sein kleines Mausoleum inspiziert – der Weg führt über das Elztal, das Prechtal, die Wasserscheide Landwassereck – : Ich setzte mich rückwärts in den Wagen, denn nach Norden und Osten hin hatte ich einen Blick in die Berge des Kinzigtales … und dann kommt er auf Buddha zu sprechen und die Seligkeit der ewigen Natur, er zitiert Paulus und dessen berühmte Stelle vom „Seufzen aller Kreatur“ und dem „Harren nach Erlösung“, und er schlägt den Bogen zur Johannesapokalypse, in der die Rede vom neuen Himmel und der neuen Erde ist: also auf der neuen Erde, die nach Sankt Johannes der Wohnsitz der Seligen sein und auf der Gott bei ihnen wohnen wird, werden Berge und Täler, Tiere und Pflanzen existieren. Und heute auf der Landwassereck erschienen mir im Spätsommerlicht die Berge des Kinzigtales schon völlig verklärt vom ewigen Lichte. Und es kam mir der Gedanke, ob die Seligen auf der neuen Erde dereinst da werden wohnen dürfen, wo sie geboren wurden und wo sie die seligste Zeit, die Jugendzeit verlebt haben. Wie schön müsste dann das Kinzigtal sein, wenn seine Berge himmlisch verklärt sind, wenn das Silber und Gold in ihren Tiefen außen glänzt ... und wenn alle die guten Menschen, die man gekannt und geliebt in seiner Kinderzeit, bei uns sind und kein Leid und kein Tod und keine Trennung und kein Schmerz und keine Tränen mehr sein werden…
Voilà. Da kann ich schon mitseufzen. So nah am Himmel möchte auch ich meine Kindheit sehen. Ich seufze einfach mal. Ganz paulinisch. Römer 8. Gestöhnt haben wir ja schon. Als Hansjakob kam. Wenn Hansjakob geht, seufzen wir. Ein Ignorant, wer da meint, das liefe aufs Gleiche hinaus.
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