Suzanne Dingler in memoriam

geboren 19. November 1925, gestorben 15. September 2023

Suzanne Dingler

Ein Nachruf von Manfred Bosch

Die Höri, die ihr in langen Jahrzehnten zur zweiten Heimat geworden war, verdankt ihr viel. Als Suzanne Dingler 1962 nach Gaienhofen zog, gründete sie mit ihrem Mann Paul Heinrich und befreundeten Familien einen privaten Lesekreis. Ihm gehörten auch Doris und Bruno Epple an, dem sie später zu seiner ersten Ausstellung verhalf. „Wir trafen uns alle vier bis sechs Wochen und lasen ältere und neuere Literatur“, erinnerte sie sich. „Wir lasen mit verteilten Rollen und kleinen Attributen wie Federboa, Schnurrbart oder Zylinder, je nach Thema, und hatten unsere Freude dabei“. An diese Idee knüpfte Suzanne Dingler, Jahrzehnte später und nach dem Tod ihres Mannes, wieder an – diesmal unter dem Dach der literarischen Gesellschaft „Forum Allmende“, die sie 1998 mitbegründet hatte. Die Idee war nunmehr, die literarischen Traditionen rund um den Bodensee durch Vorträge und Lesungen wieder aufleben zu lassen
Was auf diese Weise zustandekam, war eine lebendige Mischung aus literarischer Vermittlung und geselligem Beisammensein.

Über 80 solcher Wohnzimmerlesungen hat Suzanne Dingler konzipiert und organisiert; außerdem gehörte sie dem „Freundeskreis Jacob Picard“ an. Eine eifrigere Werberin für die Sache der Literatur und die Verbreitung des Lesens hat die Höri nicht gehabt; Suzanne Dingler ist darüber zu einer Art Institution geworden. Dem Hesse Museum, dessen eifrigste Besucherin sie war, hatte sie schon vor Jahren ihre ansehnliche Bodenseebibliothek vermacht und dazu auch einen Schrank in dessen Cafeteria gestiftet.

Geboren wurde Suzanne Dingler 1925 in Freiburg. Ihren Arbeitsdienst als sogenannte Maid auf dem Hof einer enteigneten jüdischen Familie in Heiligenholz und ihre anschließende Verpflichtung in einem Rüstungsbetrieb blieben ihr zeitlebens mahnende und verpflichtende Erinnerung. Der Besuch einer höheren Schule, zu der sie alle Voraussetzungen mitgebracht hätte, blieb ihr aus finanziellen Gründen versagt. Die ersten Nachkriegsjahre sahen sie als Sekretärin im Augustinermuseum, das sie für die Kunstgeschichte und besonders für französische Kathedralen entzündete, sowie bei der „Bauernzeitung“ in Freiburg. Von beiden Tätigkeiten wusste sie zeitgeschichtlich aufschlussreich und anekdotenreich zu erzählen. 1956 heiratete sie den Lehrer Paul Heinrich Dingler, der mit Beginn der 60er Jahre am Gymnasium Radolfzell Deutsch und Englisch unterrichtete und mit dem sie zwei Söhne hatte. Als er zu Beginn der 90er Jahre an Alzheimer erkrankte, pflegte sie ihn bis zuletzt. Das Erscheinen seiner gezeichneten Erinnerungen an Kriegsteilnahme und Nachkriegszeit, die sie im Jahr 2000 unter dem Titel „Geheime Verschlusssache“ herausgab, durfte er nicht mehr erleben.

Je mehr sich Suzanne Dingler in ihrer Bewegungsfähigkeit einschränkt sah, umso wichtiger wurde ihr das Lesen. Auf ihrem Wohnzimmertisch fand sich neben ihren Lieblingslektüren immer auch ein Stapel neuster Fotos ihrer Familie mit den sechs Enkeln und vier Urenkeln. Deren Heranwachsen mitzuerleben war die Freude ihres Alters. Mit einem phänomenalen Gedächtnis begabt, lebte sie zuletzt mehr und mehr in ihrer eigenen Vergangenheit, ohne darüber ihr waches und immer kritischer werdendes Interesse an der Gegenwart zu verlieren. Auch wusste sie unzählige Gedichte auswendig, Hebels „Habermus“ deklamierte sie in schönstem „Friburger Alemannisch“. Hundert hatte sie werden wollen; doch in den letzten Monaten war ihr das Leben mehr und mehr zur Zumutung geworden. Nun ist sie wenige Wochen vor ihrem 98. Geburtstag in Gaienhofen in ihrer Wohnung verstorben.

Suzanne Dingler anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft in der literarischen Gesellschaft Formum Allmende in Singen 2022, links Siegmund Kopitzki, rechts Hubert Sontheim.

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